Ich bin restlos altmodisch. Wenn ich durch die Straßen von Tel Aviv laufe, dann sehe ich unter den jüngeren Menschen gerade jetzt im Sommer: viel Haut. Viel tätowierte Haut. Leider. Denn, ich oute mich gerne: Ich hasse Tattoos. Ich finde sie ästhetisch unerträglich, doof und so wahnsinnig »mainstream«, da sie alle überaus langweilig sind. Kennt man ein paar Motive, kennt man die meisten. Ein bißchen Gral, ein bißchen Totenkopf, ein bißchen Blumen, ein bißchen Text (oft in einer Sprache, die der oder die Tragende gar nicht können) und so weiter.
Nein, ich habe den Sinn von Tattoos nie verstanden. Was soll daran schön sein? Was so wahnsinnig »individuell«, wo es doch so gut wie jeder in einer bestimmten Altersklasse trägt? Ein Artikel in der NZZ beschreibt das alles sehr gut (siehe unten).
Der gelbe Falter bekommt Falten
Klar, ein einzelnes Tattoo kann auf junger Haut möglicherweise ganz nett ausschauen. Als ich 23 war, kannte ich ein Mädchen, die hatte einen kleinen gelben Schmetterling auf ihrer perfekt geformten Pobacke. Sie muß nun – so wie ich – Anfang 60 sein. Also ist auch ihre Haut natürlich, wie bei jedem Mann, bei jeder Frau, nicht mehr das, was sie im jungen Alter war. Doch daran denken junge Menschen in ihrer Tattoo-Begeisterung nicht. Was aus dem Schmetterling geworden ist? Hat der Falter Falten bekommen? Oder hat ihn die Schwerkraft nach unten gezogen?
Tattoos, die aus Hemdkragen und Ärmel herausragen
Erst jüngst traf ich jemanden, den ich sehr lange kenne und mir erzählte, daß er inzwischen noch mehr Tattoos habe als zu der Zeit als wir uns häufiger gesehen hatten. Hm. Und auch sein Sohn will sich nun stechen lassen. Immerhin: man sieht die Tattoos nicht. Sie sind an Stellen oder kommen an Stellen hin, die niemand sehen kann in der Öffentlichkeit. Eine Wohltat. Denn die Tattoos, die aus dem Hemdkragen oder Ärmel herausragen … Brrrrrrr! Auch bei Becks!
Ich habe einen Widerwillen gegen Tattoos, weil ich in einer Zeit groß wurde, als das Tattoo eher bei damals sogenannten »Halbstarken« oder der Halb- und Unterwelt zu finden war. Tattoos waren „primitiv“. Sorry, auch jetzt, wo von Rihanna bis Angelina Jolie, auch viele Celebs tätowiert sind, denke ich nur:»Ach wie schade, leider so ein bißchen sehr vulgär!«
Auschwitz hat gereicht
Und ich mag Tattoos auch deswegen nicht, weil sie meinen Vorfahren aufgezwungen wurden. Die Nazis hatten auch bei meiner Familie in Auschwitz nicht Halt gemacht. Die Häftlingsnummer wurde auch ihnen im Unterarm eingebrannt. Das erinnert mich an einen Beitrag, den ich vor einigen Jahren über israelische Jugendliche gemacht habe, die sich die KZ-Nummer ihres Großvaters oder Großmutter eintätowiert haben. Als Zeichen der »Verbundenheit« und »Erinnerung«. Nun ja … auch das ist so eine Sache, mit der man nicht unbedingt konform gehen muß.
Götzendienst
Im Judentum ist es ja eigentlich verboten, den Körper zu tätowieren. Da dies bei den Nomadenstämmen und -Völkern der biblischen Zeit normal war, um damit auch die Zugehörigkeit zu einem Glauben zu zeigen, wurde die Tätowierung im Judentum als »Götzendienst« angeprangert. Und Götzendienst war und ist ja verpönt im Monotheismus der Thora.
In Israel stört das die säkulare Jugend nicht im geringsten. Und was sie sich eintätowieren lassen, ist faszinierend: riesige Davidsterne, Bibelsprüche auf Hebräisch und andere Dinge, die sie eindeutig als Juden oder Israelis kennzeichnen.
Erst jüngst sah ich einen Israeli, Anfang dreißig, mit offenem Hemd und einem riesigen Davidstern auf seiner Brust tätowiert. Gerade eben lese ich, daß in Berlin mal wieder ein antisemitischer Angriff auf einen Juden stattgefunden hat. Er stammte aus Syrien und trug einen Davidstern um den Hals. Stellen Sie sich mal den tätowierten Israeli im Hochsommer in Europa unterwegs vor …
Nee … Ich mag sie nicht, die tätowierten Männer und Frauen. Einige erklären mir, daß sie dies sogar besonders erotisch fänden. Da hört’s dann bei mir schon ganz auf. Und wenn ich mir all diese Menschen in 40–50 Jahren vorstelle? Hab‘ ich ein Glück, da lebe ich dann ganz sicher nicht mehr. Und was aus dem gelben Schmetterling geworden, muß ich auch nicht wissen …
Hier der Artikel aus der NZZ
4 Gedanken zu „Bilder auf der Haut“
Wieder großartig Ihr Beitrag. Ich mag Tätowierungen auch überhaupt nicht. Obwohl ich in diesem Jahr wieder in der Gedenkstätte Auschwitz war, bin ich auf den Zusammenhang gar nicht gekommen, obwohl ich etliche Zeitzeugen kennengelernt habe.
Ich hoffe, dass ich im Urlaub endlich dazu komme, Ihr Buch zu lesen.
Der latente Antisemitismus ist schon schlimm genug, aber der offene und handgreifliche ist eine Katastrophe besonders im weltoffenen und liberalen Berlin des 21. Jahrhunderts. Besonders widerlich sind die Angriffe gegen den Besitzer des Restaurants „Feinbergs“.
Lieber Herr Schneider,
vielen Dank für diesen Artikel, und für viele weitere ebenfalls, die ich immer mit großem Interesse lese. Ich sehe es genauso, was die Tatoos betrifft – aber ich bin auch 1968 geboren. Ich glaube, viele junge oder auch vielleicht nicht mehr ganz so junge Menschen haben das Bedürfnis, ihre Individualität, ihre Einzigartigkeit zu zeigen, oder auch nur für sich selbst zu spüren. Dies wird in Zeiten von Globalisierung, Digitalisierung und zunehmenden Ängsten immer schwieriger, und ich glaube, dies ist ihr Weg, diesen unguten, unterschwelligen Gefühlen ein Stück weit zu entrinnen. Ein Tatoo macht aus einem Körper, der bei jedem Menschen normalerweise aus einen Kopf, zwei Armen und zwei Beinen besteht, etwas Einzigartiges, etwas Unverwechselbares, und bei bestimmten Tatoos zeigt man zudem noch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Im Grunde zeigt dieser Trend doch nur eines: Dass sich die Menschen, sei es in TLV oder in Deutschland oder wo auch immer, zunehmend isoliert, einsam und austauschbar fühlen. Ihr Rückblick und der Zusammenhang zur Shoah hinterlässt dabei berechtigterweise einen bitteren Nachgeschmack.
Ein kleines, farbiges Tattoo kann ja ganz nett aussehen. Aber so als Gesamtkörperkunstwerk herzumzulaufen, wie es beispielsweise Robbie Williams tut, das muss nun wirklich nicht sein. Oder wie man es jetzt bei manchen Fußballern bei der WM sieht, wo die Arme so stark tätowiert sind, dass es aussieht, als würden sie lange Ärmel tragen.
Ein einziges Mal habe ich bei einem jungen Mann auf dem Oberarm ein Tattoo (sagt heute überhaupt noch irgendjemand Tätowierung?!) gesehen, das mich wirklich fasziniert hat. Das war so ein farbiges, indisches Motiv, irgendwas mit Shiva und Elefanten und dann so gerankt – sah einfach nur klasse aus! Und hat vermutlich ein kleines Vermögen gekostet.
In meiner Generation – ich bin Mitte 40 – war ja so vor zwanzig Jahren noch das „Arschgeweih“ ein großes Thema. Möchte gar nicht wissen, wie das jetzt nach eventuellen Schwangerschaften, ein paar Kilos mehr und der Schwerkraft unterliegend bei meinen Altersgenossinnen teilweise aussieht.
danke für`s outing
bleiben Sie streitbar , ecken Sie an
jemand muss es ja tun 😉
Mainstream und Wahrheit sitzen selten in einem Boot
Grüsse aus Bonn
U.Jetter