Verrat? Verrat

Was in diesen Tagen in Israel geschieht, ist für viele Holocaust-Überlebende, aber auch viel anderen Juden weltweit, kaum noch nachzuvollziehen.

 

Yehuda Bauer – Verrat!

Kein Geringerer als der große Holocaust-Historiker Yehuda Bauer hat Benjamin Netanyahu des »Verrats« bezichtigt. Denn Israel und Polen haben sich wegen des umstrittenen polnischen Holocaust-Gesetzes auf einen Text geeinigt, der die Rolle vieler Polen bei der Ermordung der europäischen Juden herunterspielt. Bauer, der weltweit zu den führenden Experten in Sachen Holocaust gehört und von 1996–2000 Leiter des International Centre for Holocaust Studies in Yad Vashem, der israelischen Holocaust-Gedenkstätte war, ist Ehrenvorsitzender der Task Force für Internationale Kooperation bei Holocaust-Bildung, Gedenken und Forschung.

Doch man muß nicht Yehuda Bauer sein, um zu wissen, daß die Rolle der Polen im Holocaust um vieles schrecklicher war als dieser Text mit Bibis Segen besagt.

 

Orbáns Besuch

Doch es kommt noch schlimmer, wenngleich nicht überraschend: Heute wurde in Israel angekündigt, daß Viktor Orbán vom 18.–20. Juli Israel besuchen wird. Der Mann, der zunächst für die »illiberale Demokratie« und nun für eine »christliche Demokratie« steht, der Mann, der mit einem antisemitischen Wahlkampf gegen George Sorós in Ungarn gewann, der Mann, der Miklos Horthy in hohen Tönen lobt, ausgerechnet Horthy!

Was Netanyahu treibt, ist klar: Er teilt mit der polnischen und ungarischen Führung die Abneigung gegenüber der liberalen Demokratie. Man ist sich einig in der Ablehnung der EU, man teilt die Angst vor den Muslimen, man haßt die freien Medien und so weiter und so weiter, ich könnte immerzu fortschreiben.

 

Israels neue »Realpolitik« und der Ausverkauf der jüdischen Geschichte

Was Netanyahu betreibt, wird er gewiß als »Realpolitik« verkaufen. Er tue nichts als die Interessen Israels vertreten, da spiele das eine oder andere Antisemitische keine Rolle, solange die Sicherheit Israels und die Kooperation mit der Welt garantiert sei.

Doch gleichzeitig ist es der Ausverkauf der jüdischen Geschichte und der Interessen und Sicherheit des europäischen Judentums, die Bibi im Namen Israels betreibt.

 

Verzicht auf das amerikanische Judentum

Netanyahu hat schon das amerikanische Judentum aufgegeben, indem er auf 6 Millionen US-Juden »verzichtet«, von denen die große Mehrheit die Demokraten wählt und Israels Politik kritisiert, zugunsten von rund 50 Millionen Evangelikalen, die bedingungslos auf der Seite Israels stehen aus heilsgeschichtlichen Gründen, die wiederum einen tiefen antisemitischen Kern haben.

Aber das scheint alles egal zu sein. Was wir hier erleben ist vielleicht die endgültige Spaltung des israelischen vom Diaspora-Judentum. Zumindest, wenn die aktuelle israelische Regierung so weitermacht.

Die Jewish Agency, die auch für die Beziehungen zwischen Israel und der jüdischen Welt verantwortlich ist, hat soeben einen neuen Vorsitzenden erhalten: Den bisherigen Oppositionsführer Isaac »Bujie« Herzog. Ein netter Kerl. Aber schwach und unbedeutend. Er wird bestimmt kein Gegengewicht zu Bibi sein.

 

Holocaust-Relativierung

Es sind traurige Zeiten. Und kein israelischer Politiker darf sich wundern, wenn das christliche Europa in naher oder ferner Zukunft den Holocaust weiter relativieren wird. Die israelische Politik von heute tritt das Vermächtnis der ermordeten europäischen Juden, zu denen auch meine gesamte Familie gehört, mit Füßen. Und all diejenigen, die die Schrecken der Nazis überlebt haben, so wie meine Eltern, wissen nicht mehr, wohin sie sich wenden können, nun, am Ende ihres Lebens. Nach Israel wohl nicht mehr.

 

Richard C. Schneider, Tel Aviv

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