Unsere eigenartige Normalität

Haben Sie gestern die Fotos gesehen? MbS traf sich mit der Familie des ermordeten Jamal Khashoggi, um ihr zu „kondolieren“! Er drückte Jamals Sohn die Hand. Die Körpersprache des jungen Mannes spricht Bände. Das Foto können Sie hier sehen:

https://news.sky.com/video/saudi-crown-prince-mohammad-bin-salman-al-saud-meets-dead-journalists-son-11533420

Die ganze Welt erregte sich über den Fall Khashoggi. Ich auch, ich hatte Khashoggi vor wenigen Monaten beim German Marshall Fund in Brüssel kennengelernt, ich habe das an dieser Stelle schon mal gesagt. Dadurch rückte dieser Fall für mich noch viel näher als er das sonst getan hätte.

Die Welt erregt sich über MbS und seine Brutalität in Sachen Khashoggi. Aber über den Jemen-Krieg erregt sich öffentlich so gut wie niemand. Da sterben Zehntausende im Bombenhagel saudischer Jets. Die Toten, die Hungersnot, die Seuchgefahr – all das läuft irgendwie an uns vorbei.

Wir nehmen mit zweierlei Maß wahr.

Israel erschießt an der Grenze zu Gaza an einem Freitag 60 Palästinenser? Der Aufschrei ist groß. Wenige Hundert Kilometer entfernt, im syrischen Bürgerkrieg, werden auch heute noch Tausende abgeschlachtet. Es läuft irgendwie an uns vorbei, ein kurzes „Ja, schrecklich“, aber sehr viel mehr kommt da nicht.

Wir protestieren gelegentlich gegen Erdogan, weil er Hunderte Journalisten in den Knast hat werfen lassen (von den weiteren Zehntausenden, die seit dem Putsch im Gefängnis vor sich hin schmoren, ganz zu schweigen), aber wir reden kaum darüber, was Erdogans Armee in Syrien anrichtet.

Am Sonntag wird voraussichtlich ein Rechtsextremer zum neuen Regierungschef in Brasilien gewählt. Ein Mann, der bereits angekündigt hat, daß jeder, der sich seinem Gesetz nicht unterwerfen will, in den Knast geworfen wird. Die Medienaufmerksamkeit wird sehr groß sein, wie lange? Eine Woche, einen Monat, vielleicht ein Jahr und dann immer wieder, wenn etwas „ganz schlimmes“ geschieht. Und wir werden nicht auf die Straße gehen. Denn Brasilien ist weit weg, wie so vieles für uns „weit weg“ ist. Ist es aber nicht.

Der eine Tote ist nicht soviel „wert“ wie der andere, die eine Demokratie nicht soviel wie die andere, der eine Totalitarist nicht so „wichtig“ wie der andere.

Das ist unsere eigenartige Normalität. Nicht erst heute. Immer schon. Wir sollten nur manchmal darüber nachdenken, uns bewußt werden, daß wir sehr unterschiedlich: werten. So ist es einfach.

 

Ein Gedanke zu „Unsere eigenartige Normalität

  1. Von den Medien (Journalisten…) wird uns erzählt, dass der eine Tote nicht so viel wert sei wie der andere. Für mich ist das nicht so, und ich denke jeden Tag an Jemen und daran, wie skandalös es ist, dass es praktisch keine Berichterstattung gibt über das, was dort vor sich geht.

    Die Ermordung Khashoggis ist dennoch „besonders“ angesichts der politischen Tragweite dieses Falls. Niemand fragt danach, warum er denn ermordet wurde, welche „Geheimnisse“ er wohl nicht enthüllen durfte, denn eine solche Frage stammt aus einer anderen Zeit. Es wurde ein Exempel statuiert. Er wurde ermordet für das, wofür er stand – und zugleich Trumps Loyalität auf die Probe gestellt, was nicht schwer war, da Khashoggi ja „nur“ ein „permanent resident“, so Trump, kein US-Bürger und damit schon beinahe illegal war, zumal er für die verhasste „Washington Post“ schrieb. Und die Audienz der Familie bei MbS war dann noch die Kirsche auf der Sahne im Drehbuch der autoritären Herrscher.

    Die aus und über Russland berichtende russisch-stämmige Journalistin Julia Ioffe schrieb in einem Tweet: „The Trump administration’s response to the Khashoggi killing makes me incredibly nervous: is this how they’ll behave if something happens to me when I’m reporting on Russia?“ – Ihre Sorge ist berechtigt.

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