Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona, 5

Ich hatte ja gestern versprochen, heute über die politische Entwicklung in Israel und über Gaza zu schreiben.

Israel

Nun, zur politischen Lage habe ich heute etwas geschrieben, was sie hier nachlesen können:

https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/coronavirus-israel-benjamin-netanjahu-benny-gantz-regierungsbildung-opposition/komplettansicht

Gaza

Was Gaza betrifft: Gestern meldete der Küstenstreifen 2 Infizierte, die aus Pakistan zurückkamen. Was das bedeutet, können und wollen sich viele nicht vorstellen. Gaza – das ist ein Landstrich, etwa 40 km breit, 20 km lang. Darin leben mehr als 2,5 Millionen Menschen auf engstem Raum und größtenteils in ärmlichsten Umständen zusammen. In meiner Zeit als ARD-Korrespondent war ich oft genug in Gaza, um mir vorzustellen, was jetzt dort geschehen könnte. Oder sollte ich lieber schreiben: Was geschehen wird?

Rumänien – Gaza

Die Krankenhäuser in Gaza sind eine Katastrophe. Es fehlt an allem. Das Shifa-Krankenhaus in Gaza-City erinnerte mich, als ich es das erste Mal betrat, an die Krankenhäuser in Rumänien nach dem Sturz Ceausescus. Ich werde nie vergessen, wie ich mit meinem Kamerateam in diese Krankenhäuser Rumäniens ging, die halbtoten Menschen dort sah, in ihrem eigenem Kot, ihrem eigenen Erbrochenen liegend, die hygienischen Verhältnisse waren schlicht eine Katastrophe.

Helden

In Shifa liegen die Menschen zwar nicht in ihrem eigenen Dreck, aber die Lage ist trotzdem eine Katastrophe, von anderen Krankenhäusern in Gaza ganz zu schweigen. Die Ärzte sind zum Teil hervorragend – viele von ihnen haben im Ausland gearbeitet. Während einer der Gaza-Kriege hatten wir eine Story mit einem palästinensischen Arzt gemacht, der fließend Deutsch sprachen, weil er in Deutschland studiert hatte. Wir zeigten, wie er Tag und Nacht mit geringfügigsten Mitteln versuchte, die vom Krieg damals Verwundeten und Gezeichneten zu retten. Helden waren und sind diese Ärzte, Schwestern und das Pflegepersonal.

Humanitäre Katastrophe?

Wenn nun also der Virus in Gaza sich ausbreiten wird – und das wird nicht zu verhindern sein, dann kann ich mir sehr lebhaft vorstellen, was dort geschehen wird. Israel und Ägypten werden helfen müssen. Denn abgesehen davon, daß es dort zu einer humanitären Katastrophe kommen wird, der Virus macht an der Grenze nicht halt. Man kann das Gebiet noch weiter abriegeln, absolut niemanden mehr durchlassen. Weder auf der israelischen noch auf der ägyptischen Seite. Aber ob das „reichen“ würde? Und wie gesagt: Kann man einer humanitären Katastrophe als Nachbar einfach so zusehen? Allerdings: Sind Ägypten und Israel angesichts der eigenen Corona-Problematik tatsächlich in der Lage zu helfen? Die Gesundheitssysteme beider Staaten könnten bald an den Rand ihrer Möglichkeiten geraten, wie will man da noch Gaza helfen, wenn es bei einem selbst schon an allem fehlt: An Gerätschaften, Personal etc.

Ist die Katastrophe in Gaza also schon vorprogrammiert? Wird die Welt helfen? Auch das bezweifle ich. Jeder ist im Augenblick mit sich selbst beschäftigt. Ja, vielleicht wird Material, und Geld geschickt – aber reicht das? Wahrscheinlich nicht.

Krieg? Wirklich?

Im übrigen sitzen ja alle in der Isolation. Hier in Israel, aber jetzt auch in Ägypten. 100 Millionen Ägypter müssen jetzt daheim bleiben. Wer soll wem wie helfen? Niemand weiß das. Wie viele Tote wird es in Gaza geben? Und könnte es sein, daß die Hamas in der Verzweiflung Israel in einen Krieg hineinziehen will, um irgendwie die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen? Um die eigene Bevölkerung von ihrer Unmöglichkeit zu helfen abzulenken?

100 m

Die Szenarien, die einem durch den Kopf schießen, sind alle ein einziger Albtraum. Niemand weiß, was getan werden kann. Und ab morgen könnte es sein, daß wir hier in Israel, außer zum Einkaufen oder Arztbesuch, uns nur noch in einem Radius von 100 m von der eigenen Wohnung bewegen dürfen und können. Für mindestens sieben Tage. Es wird enger und enger und enger.

Machen Sie’s gut… Wir kommen irgendwann schon wieder raus aus diesem Irrsinn. Gestärkter. Und vielleicht wissen wir dann besser, was für uns wirklich wesentlich ist.

Noch ein Buchtipp: Chaim Potok: Mein Name ist Asher Lev. Es ist die Geschichte eines hochbegabten jüdischen Kindes einer ultraorthodoxen Familie in New York. Der Jung beginnt schon als kleines Kind „das Schlimmste“ zu machen: Er zeichnet. Nonstop. Er „macht sich also ein Bildnis“, was viele Ultraorthodoxe ja grundsätzlich ablehnen. Es ist Blasphemie, ein Sakrileg. Doch der Junge zeichnet immer weiter. Und der verzweifelte Vater weiß nicht, was er tun soll und fragt seinen Rebben. Der erkennt das Talent des Kindes, erkennt, daß man ihn nicht aufhalten kann. Und schickt ihn deshalb zu einem jüdischen Maler, den er gut kennt, damit er wenigstens in gute Hände kommt. Und dann beginn Asher Lev sich zu entwickeln. Und sprengt alle Grenzen – und verletzt damit seine Eltern. Doch er kann nicht anders. Denn künstlerische Freiheit kann man nicht aufhalten, sie bedeutet alles. Viel Spaß!

4 Gedanken zu „Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona, 5

  1. Waren Sie auch im Keller des Shifa Krankenhaus Herr Schneider? Oder hat man Sie da nicht reingelassen, und Sie wissen genau warum

    1. Ich weiß, was im Keller des Krankenhauses ist. Aber es ändert nichts an der Tatsache, daß die Menschen in Gaza kein vernünftiges Krankensystem haben. Und daß eine Katastrophe droht

  2. Lieber Herr Schneider,
    Ihren „Corona-Gedanken“ aus Tel Aviv möchte ich ebensolche aus Deutschland beisteuern. Zunächst danke ich Ihnen, dass Sie die Situation im Gaza-Streifen thematisiert haben (soeben berichtet Haaretz über den ersten Corona-Toten in der Westbank). Ich denke, dass sich hier exemplarisch ereignet, was uns in Zukunft noch massiv beschäftigen wird (nicht nur in medizinischer Hinsicht!) Im Augenblick liegt der Focus der Pandemie auf den hochentwickelten Industriestaaten Asiens, Europas und Nordamerikas, den „Profiteuren“ der Globalisierung. Bald aber werden die weniger entwickelten Regionen mit desolaten Gesundheitssystemen betroffen sein. Dann wird sich zeigen, ob wir als Weltgemeinschaft wirklich solidarisch helfen und handeln oder ob wir uns darauf beschränken unsere Außengrenzen mit Tränengas und Stacheldraht zu schützen. Dann wird auch ein Umstand, den Herr Perman mit seiner Bemerkung über den Keller des Shifa Krankenhauses anspricht (und ich denke, wir wissen, was er meint) bedeutungslos, denn machtpolitische Ränkespiele interessieren SARS-Covid 19 nicht. Diese Herausforderung können wir nur zusammen meistern. Ein Zweites: in Teil 4 Ihrer Gedanken haben Sie sich über „schwarze Schafe“ vornehmlich in der arabisch-israelischen Community beklagt. Genau hierin aber liegt das Problem: rigide Maßnahmen (damit war Israel Deutschland voraus, wie Sie zu recht betonten) machen nur Sinn, wenn diese von der Bevölkerung mehrheitlich akzeptiert werden. Dieses scheint – Gottseidank – in Deutschland jetzt der Fall zu sein. Wie sieht es aber in der ultraorthodoxen Community in Mea Shearim und, s.o., bei den arabischen Israelis aus? Wichtig wird sein, dass man auch in diesen Gemeinschaften den Regelungen der Behörden aus innerer Überzeugung und nicht nur unter Zwang folgt. Die Infektionszahlen und die Sterblichkeitsrate steigen auch in Israel an (https://coronavirus.jhu.edu/map.html).
    Wie dem auch sei, die ganze Welt ist noch lange nicht über dem Berg und nur solidarisches Handeln, national wie international, kann hier helfen.
    Sehr gute Informationen bietet auch der tägliche Podcast von Prof. Drosten aus der Charite in Berlin. Liebe Grüße an alle und bleiben Sie gesund!
    https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html

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