Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona, 3

Wenn die Sonne scheint, sieht alles anders aus… In Tel Aviv hat es die letzten Tage geregnet. Gestern Nachmittag wurde es dann endlich schön und heute schon so richtig warm. Also – nix wie raus, einen kleinen Spaziergang machen. Ich wohne ja am Meer – das ist in dieser Situation ein wirklicher Trost. Man spaziert da entlang, auf dem Weg zum Einkaufen. Man vertritt sich die Beine und hat so für einen Moment das Gefühl, daß alles doch eigentlich wie immer sei. Bis man dann Menschen begegnet. Manche mit, manche ohne Mundschutz. Auf alle Fälle beginnt man plötzlich sich anders zu bewegen. Der Fußgängerweg ist eng, es kommen zwei Leute auf einen zu? Schon gehe ich – beinahe – automatisch, auf die andere Straßenseite, um nicht in ihrer Nähe vorbeigehen zu müssen.

Gewohnheitstier?

Es ist faszinierend, wie schnell der Mensch lernt und seine Gewohnheiten beinahe automatisch verändert. Und ich muß zugeben: die drakonischen Entscheidungen, die die israelische Regierung sehr viel schneller gefällt hat als die Regierungen z.B. in Deutschland oder der Schweiz, helfen, daß man sich an neue Gegebenheiten anpasst (anpassen muss).

Die Ösis waren besser

Gestern schrieb mir eine sehr liebe österreichische Freundin, die allerdings in Berlin lebt, daß sie sich von Anfang an an die Bestimmungen der österreichischen Regierung gehalten hat. Und nicht an die der deutschen Regierung, weil die Ösis einfach schneller und härter reagiert haben. Und sie sich lieber darauf verlassen wollte, als auf das – bis auf Bayern – immer noch etwas larifarihafte Flickenteppich-Entscheidungsgedöns, wie sich Deutschland im Augenblick noch für viele darstellt.

Die Politiker – zwischen Fahrlässigkeit, Nichtwissen und ehrlichem Bemühen

Man muß allerdings hier zweierlei unterscheiden: Auf der einen Seite die verständliche und ehrliche Unterschätzung der Gefahr. Politiker können nicht unbedingt wissen, ob die Gefahr einer Pandemie besteht oder nicht. Und meines Wissens nach gibt es ja auch unter den Fachleuten bis jetzt Auseinandersetzungen, wie man am besten mit dem Problem umgeht. Mal abgesehen davon, daß die WHO ja auch eine Weile gebraucht hat, bis sie eine Pandemie ausgerufen hat.

Und dann gibt es die Politiker, die allerdings fahrlässig sind. Die harte Entscheidungen einfach nicht treffen wollen, weil sie Angst vor den (politischen) Folgen für sich selbst haben. Oder weil sie als Menschen das Problem unterschätzen. Oder nicht hören wollen, was Experten sagen.

Und dann gibt es – und das ist ehrenvoll, wirklich ehrenvoll, aber möglicherweise fatal – bei einigen Politikern in Deutschland die Scheu vor drakonischen Maßnahmen wie Ausgangssperre etc., weil damit die Demokratie schnell an ihre Grenzen gebracht wird.

Eigene Verantwortung

Das allerdings halte ich im Augenblick für die – jenseits der Ansteckungsgefahr – größte Gefahr: Wie kann eine Demokratie sich in solchen Zeiten behaupten, in der von oben radikale Entscheidungen gefällt werden müssen, z.T. schon allein deshalb, weil ein Teil der Bevölkerung zu blöde ist, um eigene Verantwortung zu übernehmen und dementsprechend von selbst verantwortungsbewußt zu handeln. Wenn man sich freiwillig in Isolation begibt, dann braucht der Staat nicht drakonisch zu werden. So einfach wäre das. Ist es aber offensichtlich nicht.

Wenn ich allein daran denke, was mir ein Freund heute erzählt hat. Er ist stinkwütend, daß sein Sohn noch vor einer Woche zum Tanzen gegangen ist, weil der meinte, er wolle noch ein letztes Mal „leben“, ehe seine gesamte Zukunft im A… ist. Der Sohn ist Ende dreißig, also wahrlich kein Kind mehr. Unfassbar? Undenkbar? Und doch geschieht es. Traurig.

Das Ende Europas? Das Ende der Demokratie?

Und gleichzeitig sehe ich – und nicht nur ich – daß wir wahrscheinlich das Ende Europas und möglicherweise sogar das Ende der Demokratie erleben in diesen Tagen. Darüber werde ich noch mehr schreiben. Vor allem auch angesichts dessen, was sich hier in Israel politisch im Schatten von Corona abspielt.

Ganz ehrlich: Mir machen zwei Dinge wahnsinnige Angst (abgesehen davon krank zu werden): 1. Die Gefahr, daß die Demokratie wirklich vorbei ist. Und 2. die Gefahr, daß hier in Israel (und anderswo) noch die Entscheidung kommt, daß wir gar nicht mehr auf die Straße können, nur noch zum Einkaufen. Dann allerdings wäre das Gefühl „im Knast“ zu sein vollständig. Allein bei dem Gedanken bekomme ich klaustrophobische Attacken.

Meditations Apps

Für heute noch ein Tipp: Meditieren. Sie können Online-Kurse belegen oder sich Apps herunterladen. Ich selbst arbeite seit 4 Jahren mit der wunderbaren App „Headspace“. Dann gibt es noch „Calm“ und „Balloon“. Letztere kenne ich noch nicht, die wurde mir gerade empfohlen. Ich habe sie heute heruntergeladen und werde sie mal ausprobieren.

Ach, und noch etwas: Der Sohn meines Freundes wollte doch noch ein letztes Mal „leben“. Wir alle sind jetzt gezwungen, mal in Ruhe und Einsamkeit darüber nachzudenken, was denn „leben“ wirklich bedeutet. Bedeuten kann. Es gibt also auch eine Chance in diesem Irrsinn. Wir müssen versuchen, diese Chance zu nutzen. Auch ich. Glauben Sie ja nicht, daß ich da so locker vor mich hinschreibe und alles total perfekt hinbekomme. Von wegen. Ich habe meine täglichen Krisen wahrscheinlich genauso wie sie. Nein, diese Zeit ist nicht leicht. Und das Schreiben dieses Blogs nun unter dem „Corona“-Stern ist für mich natürlich auch ein Stück Eigenhilfe, ein Stück Struktur und Disziplin. Und wenn ich Ihnen mit diesem Blog auch ein klein bißchen helfen kann, oder sie zumindest für ein paar Minuten täglich von Ihren Sorgen ablenken kann, dann wäre das schon ganz toll.

Bis morgen. Machen Sie’s gut und kommen Sie gut durch die Nacht.

 

 

4 Gedanken zu „Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona, 3

  1. Lieber Herr Schneider,
    ich melde mich noch einmal, um Ihren pessimistischen Gedanken über das Ende der Demokratie in Europa positive Gedanken entgegenzusetzen. Die Demokratie, und dies natürlich nicht nur in Europa, war und wurde immer mehr zu einer Oligarchie, in der die wirtschaftlich Mächtigen in obszöner Weise das Ruder übernahmen und einen Großteil der Bevölkerung ins gesellschaftliche Abseits drängten. Der europäische Sozialstaat, das Ideal der sozialen Marktwirtschaft, wurde immer mehr ad absurdum geführt, leider auch durch tätige Mithilfe vermeintlich linker Politiker (Schröder, Fischer, Blair etc.). In der Corona Krise sehen wir allerdings, wer unsere Gesellschaft am Laufen hält. Es ist eben nicht der Investment Junkie, nicht der Börsenspekulant, sondern es sind die Menschen in der Pflege, die Verkäuferinnen in den Supermärkten, die Paketboten, Lastwagenfahrer und sonstigen Dienstleister, die sich in einer Gesellschaft in der sich Leistung lohnen sollte, weder ausreichend wertgeschätzt fühlen, noch adäquat für ihre wirkliche Leistung bezahlt werden. Und die in diesen Tagen bis zum Umfallen schuften und leider keine Zeit zur Meditation haben (sorry!).
    Diese Einsicht wird sich hoffentlich durchsetzen und aus unseren Gesellschaften der Singularitäten wieder mehr Gesellschaften des Miteinanders machen

    1. Ich gebe Ihnen völlig Recht. Und die Menschen, die jetzt gerade Übermenschliches leisten, sind die wahren Helden einer jeden Gesellschaft und man kann nur hoffen, daß nach dieser Krise das endlich auch einmal anerkannt wird und einen neuen Stellenwert bekommt (was ich aber nicht wirklich glaube). Ich bin ja begeisterter Fussballfanatiker, aber irgendwie habe ich nie akzeptieren können, daß ein Mensch, der einfach ganz toll mit einem Ball umgehen kann Millionen verdient, aber Wissenschaftler, Pflegpersonal und und und (die Liste ist sehr lang) verdienen im Vergleich dazu nix. Und die neuste Variante, die wir ja in den letzten Jahren hatten, waren die „Influencer“ auf Instagram… Natürlich wissen wir, daß in unsere (alten?) Welt einiges schief gelaufen ist. Ob sich das danach verändern wird? Ich bin mir nich sicher. Wir lesen derzeit ständig von der Spanischen Grippe und wie die die Gesellschaft verändert hat. Aber in welche Richtung schlußendlich? Sind wir Menschen nicht auch leider gern „vergesslich“ – was allerdings zum Teil auch eine Überlebensstrategie ist. Viele Fragen. Und auf Antworten werden wir warten müssen. Liebe Grüße, rcs

      1. Ich danke Ihnen für Ihre Antwort und möchte erneut den Positivisten geben. Ich glaube schon, dass sich unsere Gesellschaften zum Besseren verändern können (und es hoffentlich auch tun!). Wir sehen in der Corona-Krise trotz aller Kritik und Unzulänglichkeiten doch auch ein hohes Maß an Solidarität, Hilfe und Einsicht in die nicht unerheblichen Einschränkungen unserer Grundrechte. Wir sehen, dass wir es zusammen schaffen können und – da bin ich mir sicher – auch werden. Das besondere an diesem Virus ist die Tatsache, dass es nicht nur alle gleichermaßen trifft, sondern uns „Bessergestellte“ besonders. Ich betreue als Arzt einen Verein, der sich um Wohnungslose im Ruhrgebiet kümmert. Wir haben bei unseren Patienten noch keinen Infizierten, denn diese Menschen gehen nicht in den Skiurlaub und besuchen auch keine Karnevalsveranstaltungen. Sie sind allerdings aufgrund ihrer sozialen Lage und ihrer angegriffenen Gesundheit besonders gefährdet wenn es zu einer Infektion kommen sollte. Aus diesem Grunde macht mich die Haaretz Meldung über den Gaza-Streifen so betroffen. Der Virus traf dort spät ein, denn von den „Segnungen“ der Globalisierung waren die Menschen dort meilenweit entfernt. Jetzt aber muss eine Katastrophe gigantischen Ausmaßes befürchtet werden. Hier werde alle Globalisierungsprofiteure helfen müssen, nicht zuletzt aus Eigennutz. Gestatten Sie mir noch 2 private Anmerkungen. Ich hoffe, dass sich die Dinge auch in der Region, in der Sie leben demnächst bessern werden, denn einer unserer Söhne wird am 17.9. in Haifa heiraten (sofern dies möglich sein wird). Und zweitens: auch ich bin Fussballfanatiker und stimme Ihnen in Ihren Ausführungen voll zu (leider glaube ich, dass meine Leidenschaft als Kind des Ruhrgebietes einem anderen Verein gehört, als Ihnen als Münchener .-)) Liebe Grüße HG Schmitz

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