Heute war eine kurze Nacht. Seit zwei Uhr lag ich wach im Bett und grübelte. Geht es Ihnen auch so? Wahrscheinlich. Wir sind schlagartig in eine dermaßen unerwartete existentielle Situation hineingeworfen worden, daß Tausend Fragen und Sorgen hochpoppen…
Checkpoints in Tel Aviv?
Heute morgen las ich die möglichen Stufen an Maßnahmen, die Israel durchziehen will, falls der Anstieg der Erkrankten nicht abnimmt. Einer der möglichen Schritte ist, daß die Stadtviertel abgeriegelt werden, daß es dann Checkpoints gibt, wo nur noch jemand durch darf, der eine Genehmigung hat. Sonst geht nichts mehr. Mir wird bei solchen Möglichkeiten natürlich angst und bang und ich kann nur hoffen, daß wir uns diese letzte Bewegungsmöglichkeit, nämlich noch zu einsamen Spaziergängen, erhalten können. Ich wohne gleich am Meer, da kann ich wenigstens ein bißchen durchatmen, wenn ich da spazierengehe.
Nah ist relativ
Die Sorge um die Familie und die Trennung von der Familie ist besonders hart. Meine Familie lebt in München und Zürich, wir telefonieren viel, haben natürlich eine Familien-Whatsapp-Gruppe (immer schon) und so bleiben wir in Kontakt. Auch das wird Ihnen wohl bekannt sein, auch unter Ihnen wird es sicher viele geben, die Familie kreuz und quer verstreut haben. Das Verrückte ist, wie die Psyche tickt. De facto spielt es im Augenblick keine Rolle, wo man sich befindet. Selbst wenn man nur zwei Straßen voneinander entfernt wohnt – man kann sich nicht mehr besuchen, soziale Kontakte finden nur noch via Technologie statt. Und trotzdem sind wir so gestrickt, daß wir das Gefühl haben, wir möchten „nahe“ bei der Familie sein. Nahe im Sinne von Kilometern. Wir sind hier einige, die miteinander darüber diskutieren, ob wir den inzwischen beschwerlichen und nicht ganz unproblematischen Weg nach Europa auf uns nehmen sollen, um zumindest in der Nähe der Familien zu sein, vor allem in der Nähe der Eltern. Niemand hat eine Antwort. Niemand weiß, was richtig, was falsch ist.
Viktor Frankl
Ich werde in diesen Tagen wieder zu einem extrem wichtigen Buch greifen. Viktor Frankls „….trotzdem ja zum Leben sagen“. Wer es nicht kennt, dem kann ich es nur dringend empfehlen. Frankl war ein Psychoanalytiker, er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse und überlebte die Lager der Nazis, u.a. Auschwitz. In diesem Buch erzählt er, wie er überlebt hat, das heißt, welche psychischen Strategien er entwickelt hat, um durch diese Hölle zu kommen. Ein unglaubliches Buch, das ich das erste Mal so mit 15, 16 gelesen habe. Ich habe es schon lange nicht mehr in Händen gehalten, aber jetzt ist die Zeit gekommen, es wieder zu tun. Frankl gibt Hoffnung, gibt eine Strategie aus, erklärt eben, warum man trotzdem Ja zum Leben sagen soll. Eine tolle Lektüre in diesen Zeiten.
Ein Gedanke zu „Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona, 2“
Lieber Herr Schneider,
für Ihren Hinweis auf das Buch von Viktor Frankl danke ich Ihnen herzlich. Es ist auch für mich eines der prägendsten Bücher! Leider muss man Ihre Schilderungen der Corona-Krise um eine dramatische Tatsache ergänzen: gestern berichtete Haarnetz über die ersten Corona-Fälle im Gaza Streifen. Als Arzt möchte ich mir gar nicht ausmalen, was dieses Virus in einem eingeschlossenen Kleinstgebiet mit seinen dort 1,8 Mio eingepferchten Menschen macht. Social distancing ist dort illusorisch, die hygienischen und medizinischen Verhältnisse katastrophal! Wir werden auf erschütternde Art und Weise erleben, wie sich dieses Virus in einem solchen „Biotop“ verbreitet. Israel, aber auch die übrige Welt wird helfen müssen! Wenn nicht aus moralischer Einsicht (auch da könnte die Lektüre von Viktor Frankl helfen), dann doch aus purem Eigennutz. Dieses Virus lässt sich nämlich nicht von Mauern, Stacheldraht und militärischer Stärke abhalten. Dieses Virus wird, so glaube ich, vieles verändern. Es wird uns lehren solidarisch zu handeln und über den Tellerrand unseres begrenzten Umfeldes hinauszublicken. Politische Ränkespiele werden ebenso pulverisiert wie ökonomische Egoismen. Die Welt wird nach dieser Krise eine andere sein. Hoffentlich!