Von Richard C. Schneider, Tel Aviv
Für Israels Premier Benjamin Netanjahu sind das großartige Tage. Seine Visionen und Träume werden allmählich Wirklichkeit: der Atomdeal, den allen voran der verhasste US-Präsident Barack Obama ausgehandelt hat – Makulatur. Den Iran als »größte Bedrohung« im Nahen Osten erkennen – die US-Regierung hat dies bestätigt. Dem Iran militärisch in Syrien eine Lektion erteilen – gelungen. Die Palästinenser zerstritten und kein Partner für den Frieden – sogar der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman sieht das so. Die US-Botschaft in die Hauptstadt des jüdischen Volkes transferieren – es ist vollbracht.
Es könnte nicht besser laufen
Es könnte tatsächlich nicht besser laufen für Netanjahu, da spielen selbst die mehr als 50 Toten an der Grenze zu Gaza am Montag keine Rolle. Seine Sicht der Dinge, sein pessimistisches Weltbild, sein Gefühl der totalen existenziellen Bedrohung, die sein Ziel eines starken Israels inklusive ganz Jerusalem sowie Judäa und Samaria (so die biblischen Namen des Westjordanlands) bestimmen: Es scheint, als ob zumindest die Regierung in Washington sich diesem Weltbild angeschlossen hätte. Und auf jemand anderen kommt es Netanjahu nicht an. Die Europäer? Sprechen ja nicht einmal mit einer Stimme, wenn es um die Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem geht. Die Russen? Mit denen arbeitet man in Syrien zusammen, doch man vertraut Präsident Wladimir Putin natürlich nicht.
Und so sagte »Bibi«, wie der israelische Premier in Israel genannt wird, bei der Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem einen denkwürdigen Satz: Es sei ein »großartiger Tag für Israel und ein großartiger Tag für die USA und ein großartiger Tag für den Frieden«. Für den Frieden? Was für ein Zynismus, mag man denken. Doch in Netanjahus Welt ergibt der Satz Sinn.
Netanjahu kann es egal sein
Dass Jerusalem die Hauptstadt des jüdischen Staates ist, zumindest Westjerusalem, wäre ja selbst bei einer Zweistaatenlösung klar. Und auch wenn die internationale Staatengemeinschaft ihre Botschaften in Tel Aviv hat, um den endgültigen Status der Stadt vor einer Friedenslösung zwischen Israelis und Palästinensern nicht vorwegzunehmen, so müssen die Botschafter dennoch ständig nach Jerusalem, um ihren diplomatischen Geschäften nachzugehen, denn natürlich befinden sich die politischen Institutionen Israels mehrheitlich dort, in der faktischen Hauptstadt des jüdischen Staates. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach zum 60. Jahrestag der Staatsgründung 2008 in der Knesset. Und wo liegt die Knesset? In Jerusalem.
So sieht Netanjahu mit der Verlegung der US-Botschaft das Ende der Bigotterie gekommen. Eine Tatsache werde nun als Tatsache anerkannt, so denkt er. Die Palästinenser, die in den vergangenen Jahren dazu übergegangen sind, jegliche historische Verbindung des jüdischen Volkes zu Jerusalem zu leugnen, müssten sich nun endgültig damit abfinden, dass die jüdische Präsenz in Al-Kuds, wie Jerusalem auf Arabisch heißt, eine nun auch anerkannte Realität ist, um die man nicht mehr herumkommt.
Donald Trumps Geschenk
Nur so, denkt Netanjahu, könne man realistisch den Frieden verhandeln. Aber ist das wirklich so? Keine Frage, Donald Trumps Entscheidung ist ein Geschenk an den israelischen Premier, aber zugleich brachte Trump die USA aus der Vermittlerrolle zwischen Palästinensern und Israelis heraus. Der ehemalige US-Botschafter in Israel, Dan Shapiro, ein Obama-Mann, sagte am Montag, dass es eigentlich kein Problem sein sollte, eine amerikanische Botschaft für Israel in Westjerusalem zu eröffnen, wenn denn Trump nur gesagt hätte, dass man dereinst eine zweite Botschaft in einer zukünftigen palästinensischen Hauptstadt Ostjerusalem eröffnen werde. Dass Trump genau dies nicht getan hat, ist für die USA politisch kurzsichtig. Bibi kann es aber egal sein. Er hat ein wichtiges Ziel erreicht.
Netanjahus nächstes Ziel: die USA dazu zu bringen, den Iran anzugreifen. Der israelische Premier, die Saudis und die Emirate wären überglücklich, wenn es dazu käme. Denn sie sind sich im Klaren darüber, dass die mächtige US Air Force ganz anders gegen den Iran vorgehen kann als die israelische Luftwaffe, geschweige denn die saudische. Bibi ist überzeugt, dass die Mullahs in Teheran auch nach der Unterzeichnung des Abkommens von 2015 weiter an einer Atombombe arbeiteten. Aber selbst wenn nicht, das Abkommen wäre ja in spätestens zehn Jahren allmählich ausgelaufen, der Iran könnte dann ganz offiziell sein Nuklearprogramm aufbauen – ein Albtraum.
Lieber jetzt als später
Nur so ist zu erklären, dass Netanjahu »lieber jetzt als später« einen Angriff gegen den Iran befürwortet. Jetzt, da das Regime noch nicht Fuß fassen konnte in Syrien. Jetzt, da der Iran noch keine Bombe hat. Jetzt, solange man im Weißen Haus einen Präsidenten hat, der den Iran ebenfalls als »das Böse« schlechthin begreift. Darum ist Netanjahu froh, dass das Abkommen aufgekündigt wurde. Denn wer weiß, wer in zehn Jahren US-Präsident sein wird und wie er oder sie dann zu Israel und zum Iran stehen wird? Würde der nächste Präsident dem Iran Paroli bieten oder, wie Obama und die Europäer in den Augen Netanjahus, gegenüber dem Iran eine Appeasement-Politik betreiben?
Dass die schiitische Hisbollah-Miliz im Libanon rund 120.000 Raketen auf Israel gerichtet hat und ihre Befehle direkt aus Teheran bekommt, irritiert Netanjahu nur bedingt. Denn diese kriegerische Auseinandersetzung wird sowieso kommen, das sehen selbst die moderateren israelischen Generäle so. Warum sie dann nicht gleich erledigen? US-Außenminister Mike Pompeo warnte den Iran vor einer Woche, ein Angriff auf Israel werde von den USA nicht »unbeantwortet« bleiben. Bibi also im Glück? Vielleicht.
Ein Palästinenserstaat ist nicht gewollt
Viele Israelis schwelgen in diesen Tagen tatsächlich im Glück. Der Sieg der Sängerin Netta beim Eurovision Song Contest wurde auf einer riesigen Party auf dem Rabinplatz in Tel Aviv gefeiert, den meisten Israelis ist dieser Erfolg wichtiger als die Verlegung der US-Botschaft in ihre Hauptstadt. Natürlich gibt es viele Israelis, die mit der Vision ihres Premierministers für ihr Land gar nicht einverstanden sind. Die zwar das Vorgehen der Armee an der Grenze zu Gaza verteidigen, weil man ein Überrennen des Zauns hinein in das Kernland Israels von Tausenden Palästinensern nicht zulassen kann. Die sich aber sehr wohl bewusst sind, dass die humanitäre Lage in Gaza ein riesiges Problem ist, dass die andauernde Besatzung und Besiedlung des Westjordanlands auch nicht zur Stabilität und Sicherheit des Staates Israel beitragen.
Doch der Status quo, wie ihn Netanjahu und seine Regierung fortschreiben, ist für den Moment für Israel von Vorteil. Israel ist stärker denn je in seiner Geschichte. Wirtschaftlich boomt der 70 Jahre junge Staat, militärisch dominiert er seine Nachbarschaft, politisch hat er, dank Trump, bislang eine Carte blanche.
Das Überleben Israels sichern
Für Netanjahu ist das alles die Voraussetzung, um das Überleben Israels zu sichern. Die Zweistaatenlösung? Selbst wenn er noch von Verhandlungen spricht, in Wirklichkeit ist ein Palästinenserstaat nicht gewollt. Und inzwischen gibt es ja mit dem greisen Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas, der antisemitische Reden schwingt, tatsächlich keinen Partner mehr auf der anderen Seite.
Netanjahus Weltbild ist eindeutig: Es geht um »sie« oder »wir«. Es geht nicht darum, eine Lösung zu finden, wie Palästinenser und Israelis nebeneinander existieren können, sondern um alles oder nichts. Ganz so wie Netanjahus großes Vorbild Winston Churchill es im Krieg gegen Nazideutschland gesehen und propagiert hat. Churchill, und damit Großbritannien, hat den Krieg gegen Hitler gewonnen. Sollte Bibi gewinnen, wird man sehen müssen, was das dann tatsächlich für Israel bedeuten wird.
Dieser Artikel erschien am 16. Mai 2018 auf ZEIT ONLINE.
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