Alltag im Ausnahmezustand

Alltag im Ausnahmezustand

Israel – das ist Routine und Ausnahmezustand, Frieden und Krieg, Hochtechnologie und Orthodoxie.
Eine kritische Würdigung zum 70. Geburtstag des jüdischen Staats.

 

Von Richard C. Schneider, Tel Aviv

Israelische Flagge. Alltag im Ausnahmezustand

 

Kommt der Angriff des Iran oder kommt er nicht? Wird die Hamas versuchen, mit Zehntausenden Menschen den Grenzzaun in Gaza zu stürmen oder nicht? An seinem 70. Geburtstag ist der jüdische Staat mal wieder in einer Krisen-, vielleicht sogar bald in einer Kriegssituation.

Der Ausnahmezustand ist die Normalität in Israel. Man hat sich an die Angst nicht gewöhnt. Aber Israelis haben sich mit ihr irgendwie arrangiert, sie gehört zu ihrem Leben. Das sei kein erstrebenswertes Leben?

Im Word Happiness Report der UN im vergangenen Jahr kam Israel auf Platz 14, die Bundesrepublik Deutschland lediglich auf Platz 30. Israelis zeigen sich ganz offensichtlich zufriedener mit ihrem Leben als die Deutschen. Und sie haben auch allen Grund dazu. Denn Israel ist zunächst eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen.

Menschen wandern aus mehr als 100 Ländern nach Palästina ein, weil sie an eine Idee, an den Zionismus als nationalen Ausdruck des jüdischen Volkes glauben und dort aus dem Nichts einen Staat aufbauen, der heute zu den bedeutendsten High-Tech-Nationen der Welt gehört, der zusammen mit Silicon Valley der wichtigste Innovationsstandort der Welt ist, der eine der besten Armeen der Welt hat, der die biblische Sprache in eine moderne Alltagssprache verwandelt und damit eine neue, die hebräische Kultur entwickelt hat – all das ist mehr, als sich die Gründerväter Israels vorstellen konnten.

 

Die Welt braucht Israels Wissen

Und selbst wenn die Europäer Israel heute bei Umfragen in der Werteskala gerade mal noch vor Nordkorea nennen, also an vorletzter Stelle, so steht das Land am Mittelmeer heute insgesamt besser da als jemals zuvor. Denn die Welt braucht Israel und sein Know How.

Geschickt hat Israels Regierung in den vergangenen Jahren die militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit vielen Staaten aufgebaut, die vorher wenig oder keinen Kontakt mit dem jüdischen Staat hatten und die Märkte der Zukunft sind. Dazu gehören Indien, China, afrikanische Staaten und viele andere.

Selbst wenn die Europäische Union Israel immer wieder politisch verurteilt, in Sachen Cybersecurity und Terrorbekämpfung kommen die europäischen Staaten ohne israelische Expertise nicht aus. Gleiches gilt für die Zusammenarbeit der Geheimdienste, aber auch der Industrie, Forschung und vieles mehr.

Natürlich profitiert auch Israel davon. Nach den USA ist die EU der zweitwichtigste Markt für Israel, das wird schon noch eine Weile so bleiben. Bald wird Europa auch noch das Gas aus den Feldern im Mittelmeer vor der Küste Israels einkaufen wollen, der Bedarf an Energie im europäischen Wirtschaftsraum mit mehr als 500 Millionen Menschen ist enorm. Es ist daher keineswegs so, dass nur Israel von der EU profitiert, umgekehrt ist das genauso. Daran werden politische Differenzen auf absehbare Zeit nichts ändern.

 

Auf Konfrontationskurs in Syrien

Aber all das kann nicht über die großen Probleme hinwegtäuschen, mit denen sich Israel gerade in diesen Tagen mal wieder konfrontiert sieht. Der Iran versucht derzeit, in Syrien Fuß zu fassen. Er baut eine Miliz ähnlich zur schiitischen Hisbollah im Libanon auf, mit der sich Israel seit Jahrzehnten in kriegerischen Auseinandersetzungen befindet, in richtig großen Ausmaß zuletzt im Libanonkrieg 2006, als die Hisbollah zwei Soldaten auf israelischem Gebiet entführt hatte. Israel begann daraufhin den sogenannte Zweiten Libanonkrieg gegen die Schiitenmiliz.

Neben einer neuen Miliz in Syrien baut der Iran nun dort eigene Waffen- und Militärlager auf, die Israel seit Wochen bombardiert. Jerusalem hat die militärische Präsenz des Iran im Nachbarland zur „roten Linie“ erklärt. Man will den Erzfeind nicht in der Nähe der eigenen Grenzen haben.

Die Konfrontation zwischen Iran und Israel hat Anfang Februar eine neue Qualität bekommen. Hatten zuvor stets die iranischen Stellvertreter Israel attackiert – im Norden die Hisbollah, im Süden, von Gaza aus, der Islamische Dschihad und die Hamas – so griff Iran Israel Anfang Februar zum ersten Mal selbst und direkt an.

Eine nach israelischen Angaben mit Raketen bestückte iranische Drohne, die vom Stützpunkt „T4“ in Syrien gestartet war, drang in den israelischen Luftraum ein. Israel schoss sie sofort ab und bombardierte „T4“. Dabei wurde eine israelische F-16 abgeschossen. Inzwischen hat Israel „T4“ und andere iranische Stellungen erneut angegriffen. Dabei wurden mehrere iranische Fluggeräte mitsamt weiterer Drohnen zerstört und mehrere iranische Militärs getötet. Daraufhin kündigte Iran mit scharfen Worte massive Vergeltung an.

 

Sollte es zu einem Krieg kommen, wird der jüdische Staat ihn wohl selbst ausfechten müssen

Israel ließ sich allerdings nicht beeindrucken, im Gegenteil. Ende April wurden erneut iranische Stellungen in Syrien bombardiert. Dabei sollen rund 200 Raketen zerstört worden sein, die von Teheran nach Syrien gebracht wurden, um im angekündigten Vergeltungsschlag eingesetzt zu werden. Bereits eine halbe Stunde nachdem Donald Trump den Ausstieg aus dem Atomdeal mit dem Iran angekündigt hatte, warnte die israelische Armee, dass man Bewegungen in Syrien beobachte, die einen unmittelbaren Angriff befürchten lassen.

Kurz darauf kam es zu Bombardements von möglichen Stellungen des Iran in der Nähe von Damaskus. Die israelische Air Force reagierte „präventiv“. Doch der Vergeltungsschlag Irans ist damit im besten Fall nur aufgeschoben. Was dann geschieht, weiß niemand. Israel droht. Je nach der eigenen Opferzahl werde man agieren. In Syrien würde man vielleicht sogar Präsident Assad, Irans Verbündeter, wegbomben, eventuell sogar iranische Städte attackieren.

 

Israel und Saudi-Arabien

Israel kann sich zwar der Unterstützung der Amerikaner und der Sunniten, allen voran Saudi-Arabien, sicher sein. Doch Jerusalem weiß, dass man einen solchen Krieg letztlich wohl alleine ausfechten muss, dass die zivilen Opferzahlen an der eigenen Heimatfront tatsächlich so hoch wie nie sein könnten.

Ausnahmezustand. Brennende Reifen bei den Freitagsdemonstrationen in GazaUnd die Palästinenser? Die Hamas, die in Gaza herrscht, will am 15. Mai mit Zehntausenden Menschen den Grenzzaun einreißen und in das israelische Kernland eindringen, um den Anspruch auf „Rückkehr“ deutlich zu machen. Sollten die Islamisten ihre Drohung wahrmachen, dürfte es dort zu einem Blutbad kommen, die Freitagsdemonstrationen der vergangenen Wochen lassen keine bessere Annahme zu.

Der 15. Mai ist der 70. Gedenktag an die „Nakba“, an die „Katastrophe“, die Flucht und Vertreibung der Palästinenser im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948. Auch im Westjordanland will man demonstrieren, schon einen Tag zuvor. Denn am 14. Mai wird offiziell die US-amerikanische Botschaft nach Jerusalem verlegt. In die Stadt, die Donald Trump nun endgültig als israelische Hauptstadt anerkannt hat.

Dass er zugleich erklärte, die Grenzziehung innerhalb der Stadt, wo also vielleicht einst eine palästinensische Hauptstadt Jerusalem parallel existieren soll, sei von Israelis und Palästinensern auszuhandeln, interessiert die Palästinenser nicht.

 

Die US-Botschaft in Jerusalem

Man ist gegen die Anerkennung, gegen die Verlegung der Botschaft. Präsident Mahmud Abbas hat in den vergangenen Wochen mehrfach vor Wut und Frustration antisemitische Reden gehalten, die so schrecklich waren, dass selbst die israelkritische EU gegen das Ausmaß der Hetze protestierte.

Doch wer meint, dies seien schon genug Probleme, die ein kleines Land zu bewältigen hat, es kommen noch viele weitere innenpolitische dazu. Da ist zunächst mal das Ausmaß der Korruption im öffentlichen Leben, das Israel manchmal wie eine Bananenrepublik erscheinen lässt.

Allein gegen Premier Benjamin Netanjahu wird derzeit in mehreren Fällen wegen Korruption ermittelt, es könnte noch in diesem Jahr zu einer Anklage kommen. Immerhin: Das juristische System Israels funktioniert. Israelis verweisen sarkastisch-stolz darauf, dass der ehemalige Präsident Moshe Katsav wegen sexueller Übergriffe im Knast sitzt und ein Premier, Ehud Olmert, ebenfalls wegen Korruption im Gefängnis war.

 

Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer

Alltag im Ausnahmezustand. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer. Israelische Schekel.Doch es gibt noch mehr: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf, der Konflikt zwischen Religiösen und Säkularen vertieft sich. Und schließlich: Die Demokratie ist in Gefahr, die ultrarechte Regierung versucht, mit immer neuen Gesetzesvorlagen die Zivilrechte zu zerstören. Derzeit will sie die Macht des Obersten Gerichts so beschneiden, dass es in Zukunft keine Gesetzesentscheidungen der Knesset mehr aufheben kann. Das ist die vielleicht bedenklichste Entwicklung in Israel. Jedoch ist sie typisch für die Krise der Demokratien und des Liberalismus in der gesamten westlichen Welt.

Und was ist mit dem Siedlungsprojekt, das fälschlicherweise in Europa als größtes Problem für eine Befriedung des gesamten Nahen Ostens gesehen wird? Man ist schon fast gewillt zu sagen, es wird weitergehen. Wer sollte das aufhalten?

Inzwischen gibt es tatsächlich niemanden mehr auf der palästinensischen Seite, mit dem man verhandeln könnte. Das Mantra des „fehlenden Partners“ hat schon der sozialdemokratische Premier Ehud Barak nach dem Scheitern von Camp David im Jahr 2000 ausgegeben.

 

Der fehlende Friedenspartner

Olmert hat es tatsächlich erleben müssen, als er Abbas ein umfassendes Angebot sogar mit Ostjerusalem machte und der Palästinenserpräsident alles ablehnte. Netanjahu hat die Losung dankbar übernommen und daran festgehalten. Und nun ist wirklich niemand mehr da. Und den arabischen Staaten ist es zunehmend egal. Erst kürzlich hat der neue starke Mann in Saudi-Arabien, Kronprinz Mohammad bin Salman, erklärt, die Palästinenser sollten sich an den Verhandlungstisch setzen und annehmen, was man ihnen anbietet oder endlich den Mund halten.

Doch das Siedlungsprojekt bleibt für Israel problematisch. Denn was wird dann aus dem gesamten Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan? Ein einziger Staat, in dem dann eine jüdische Minderheit über eine arabische Mehrheit herrschen und somit jeglicher demokratischer Charakter Israels vernichtet sein wird?

Oder ein Staat für zwei Völker? Weil die Palästinenser dann auf die israelische Staatsbürgerschaft pochen werden und somit – friedlich – den jüdischen Charakter Israels untergraben werden? Die Palästinenser werden nicht verschwinden.

Insbesondere die Pläne der Siedlerpartei mit ihrem Vorsitzenden, Erziehungsminister Naftali Bennett und Justizministerin Ayelet Shaked, sind absurd, auch wenn sie so tun als sei dies die Lösung. Man will 60 Prozent des Westjordanlandes annektieren, den rund 90.000 dort lebenden Palästinensern die israelische Staatsbürgerschaft geben, so wie schon anderthalb Millionen Araber im Kernland des jüdischen Staates Israelis sind.

 Alltag im Ausnahmezustand. Jerusalem und der Tempelberg hinter Stacheldraht.

 

Ein fundamentalistisches Sparta oder ein pluralistisches Athen?

Die restlichen rund zwei Millionen Palästinenser in den verbleibenden 40 Prozent können machen was sie wollen. Das würde Israel dann nicht mehr interessieren, sollen sie doch nach Jordanien gehen. Dort sind 70 Prozent der Staatsbürger Palästinenser, dort hätten sie ihren Staat Palästina bereits, behauptet die Siedlerpartei.

Bei allen Problemen, die Israel hat: Jeder andere Staat wäre wohl längst zusammengebrochen. Das Gegenteil ist hier der Fall. Das Land boomt. Aber es steht außer Zweifel, dass Israel sich entscheiden wird müssen, wie es in weiteren 70 Jahren aussehen will: ein radikalisiertes, fundamental-religiöses Sparta oder ein friedliches, intellektuelles, pluralistisches Athen. Diese Entscheidungen werden die Israelis selbst treffen müssen. In der sehr nahen Zukunft, die bereits begonnen hat.

 

Dieser Beitrag erschien am 12.Mai 2018 auf  »Der Tagesspiegel«

Einen Überblick aller Publikationen in deutschen und internationalen Medien finden Sie hier.

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