Demokratie in Gefahr

Eine sachliche Auseinandersetzung mit politischen Themen widerspricht dem Zeitgeist. Ist der Liberalismus dem Untergang geweiht?

Vor einigen Jahren saß ich mit Franz Müntefering, dem früheren SPD-Chef und Vizekanzler, beim Abendessen zusammen. Wir sprachen über die Entwicklungen in Nahost und in Europa. Müntefering zeigte sich besorgt: »Wir haben über Jahrzehnte Demokratie immer gleichgesetzt mit Wohlstand. Doch was geschieht, wenn das mal nicht mehr so sein wird? Was werden die Menschen dann eher wählen: Wohlstand oder Demokratie?«

Münteferings Gedanken waren weitblickend, doch auch er konnte damals nicht erahnen, was sonst noch alles nur wenige Jahre später die Demokratie bedrohen würde. Es ist nicht mehr einfach eine Frage der finanziellen Sicherheit, es ist ein völlig neues politisches Konzept, das überall in der westlichen Welt aufzukommen droht und das in seiner Reinkultur in China zu beobachten ist: Neoliberalismus innerhalb eines totalitären Systems.

 

Donald Trump

Der ungarische Premier Viktor Orbán hat schon 2014 von seinem neuen System gesprochen, das er durchsetzen wolle. Er nannte es »illiberale Demokratie«, eine überaus treffende Definition dessen, was sich in Ungarn und anderen Staaten allmählich durchzusetzen begann, lange bevor ein gewisser Donald Trump antrat, die USA zu erobern. Dank Trump hat sich die Bewegung beschleunigt. Und es ist keineswegs so, dass Trump ausschließlich eine »Reaktion« auf den schwarzen, liberalen Präsidenten vor ihm ist. Das ist einfach zu kurz gegriffen.

Gründe sind der Hass auf die Eliten, die Echokammern in den sozialen Medien, die Angst vor der Globalisierung und der Verlust des Kontrollsystems der demokratischen Volksparteien, die, wie etwa auch in der Bundesrepublik, keinerlei Antworten mehr haben auf die großen Fragen einer Gesellschaft, die sich längst weiterentwickelt hat, als dass die alten Parteislogans von »links« und »rechts« die Bürger noch wirklich erreichen könnten.

 

Zersplitterung der Gesellschaft

Hinzu kommt die Zersplitterung der Gesellschaft, neue Lebens- und Familienmodelle, die nichts mehr mit alten Konzepten zu tun haben und denen Parteien wie die CDU, die CSU und die SPD als gerade noch oder nicht mehr »Volksparteien« nur noch hinterherhecheln und letztendlich scheitern. Wenn nicht heute, dann morgen. Liberalismus, im wahrsten Sinne des Wortes – nicht als das, was die FDP anzubieten versucht –, scheint dem Untergang geweiht. Denn Liberalismus und Demokratie fordern Zeit, Auseinandersetzung, Analyse und widersprechen somit dem Zeitgeist von Twitter, Snapchat und Instagram und schnellen, oberflächlichen Reaktionen in einer Welt, die Politik lieber als emotionale denn als intellektuelle Erfahrung präsentiert bekommen möchte.

 

Totatilarismus und Demokratieverlust

Demokratie ist anstrengend. Und kann nur dort überleben, wo eine selbstbewusste, aufgeklärte Gesellschaft sich ernsthafte Gedanken darüber macht, was der Verlust von Demokratie bedeuten würde. Doch wir leben in Zeiten, in denen es bereits »zu viele« Generationen gibt, die nicht mehr wissen, was es heißt, in einem undemokratischen System zu leben. Eigentlich eine Errungenschaft, dass die Erfahrung des Totalitarismus immer mehr Generationen fehlt – aber viele sehnen sich gerade danach, weil sie sich in dieser immer komplexeren Welt nicht mehr auskennen und das Denken gerne auslagern, »nach oben« delegieren möchten. So lange, bis es zu spät ist.

Ein weiteres Problem: wie Demokratie heute zerstört wird. Wir, die wir noch im 20. Jahrhundert gefangen sind, kennen Demokratieverlust zumeist als etwas Gewalttätiges, als Revolution, als eine Art »Urknall«, nachdem danach alles nicht mehr so ist wie früher. Doch selbst Adolf Hitler kam auf leisen Schritten an die Macht, ganz legal sozusagen.

Und heute ist die Lage noch »ruhiger«. Kein Militärputsch, kein politischer Coup ist zu erwarten, sondern, wie wir es in Ungarn, in Polen, in der Türkei und auch in den USA erleben können: der Versuch, die demokratischen Instanzen allmählich auszuhöhlen. In ganz kleinen Schritten. Der Angriff auf die Justiz, auf die Medien, auf den politischen Gegner, der nun zum Feind wird und mit dem man nicht mehr im demokratischen Konsens um das bessere Konzept ringt, sondern ihn zur Bedrohung stilisiert, all das erleben wir jeden Tag, auch in Deutschland oder Israel.

 

Globalisierung

Die Kontrollinstanzen der Gesellschaften brechen derzeit zusammen. In einigen Staaten schneller, in einigen langsamer. Doch der Trend scheint klar. Die Frage ist, ob die Demokratie als System in diesen neuen Zeiten der Globalisierung und der digitalen Revolution – über die sich die meisten Politiker in deren gesamtem Ausmaß keinerlei Vorstellung machen – vielleicht zum Untergang verurteilt ist.

So oder so. Auch Demokratie hat keinen Ewigkeitsanspruch. Doch wenn neue Systeme die Freiheit des Menschen im Denken und im Handeln einschränken, wenn andere entscheiden können, was man selbst noch darf oder nicht, dann kann das wahrlich nicht die Alternative zum besten aller schlechten politischen Systeme sein.

 

Richard C. Schneider, Tel Aviv

Dieser Artikel erschien erstmals in der Jüdischen Allgemeinen.

2 Gedanken zu „Demokratie in Gefahr

  1. Sie haben Recht, doch Sie sind nicht der einzige Rufer in dieser weiten Landschaft, der das Entschwinden demokratischer Politik beklagt. Die Populisten haben schon früh (und nicht sonderlich überzeugend) beklagt, dass eine sogenannte herrschende Klasse den ‚Volkswillen‘ missachten würde. Dann hat das Bundeskanszleramt eine Studie in Auftrag gegeben mit der Frage, ob dem wirklich so sei. Absicht war ja den Populisten Paroli bieten zu können. Nun hat aber eben diese Studie das Gegenteil bewiesen und so wundern sich manche, warum diese nun im Wortlaut derart verändert wurde, damit die darin enthaltene Sprengladung nicht gezündet wird. Sie haben es offen gesagt: Demokratie ist bedauerlicherweise nicht für die Ewigkeit. Dass wir uns selber einschränken werden, wie wir unser Leben gestalten können, dass ist vielen nicht bewusst. Hauptsache, wir dürfen (noch!) konsumieren.

  2. Einerseits stimmt es sicher, dass die neuen Medien die Tacktfrequenz der modernen Kommunikation in unserer Gesellschaft stark beschleunigen und so einen vernünftigen demokratischen Diskurs massiv erschweren. Ein anderer wesentlicher Faktor für das Abstimmungsverhalten der Demokratieverdrossenen könnte aber auch darin liegen, dass sich die Politiker in den letzten, sagen wir 15 Jahren, kaum um das wohl ärmerer Bevölkerungsschichten gekümmert haben. Diesen Frust der Abgehängten macht man etwa für die Wahlentscheidung für den Brexit, das Wahlergebnis in Polen, den Wahlsieg von Trump oder auch den starken Stimmenzuwachs der AfD in Deutschland verantwortlich. Kurz vor der Bundestagswahl strahlte Quarks eine Sendung über Wahlen aus und berichtete darin unter anderem über die Tatsache, dass Wahlversprechen, die reiche Bürger begünstigen im allgemeinen wesentlich häufiger umgesetzt werden, als solche, die ärmeren Leuten dienen würden. Viele Leute in solchen ärmeren Vietlen fühlen sich von den Politikern vernachlässigt (siehe Link unten) und wählen entweder gar nicht oder wischen dem Establishment eins aus, indem sie etwas wählen, von dem sie wissen, dass es die Eliten ärgert. Darauf sollte die Politik unbedingt eine konstruktive Antwort finden!

    https://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/quarks-und-co/video-wer-sind-die-nichtwaehler-100.html

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