Solange Tel Aviv feiert, ist Israel am Leben

Tel Aviv im Sommer, das ist Sonne, Strand und aus­ge­las­se­ner Spaß. Irgendwo ist ständig Party. Es ist ein Leich­tes, hier zu ver­ges­sen, dass in Jeru­sa­lem der Fun­da­men­ta­lis­mus gras­siert. Doch das Feiern hat etwas Exis­ten­zi­el­les: Die ewige Party ist der Puls­schlag des libe­ra­len Israel.

 

 

Der Sommer ist da. Das merkt man nicht nur an den Tem­pe­ra­tu­ren und dem Wissen, dass es frü­hes­tens irgend­wann Ende Oktober oder Anfang Novem­ber regnen wird. Das merkt man nicht nur an den vielen Tou­ris­ten, die die Stadt über­flu­ten. Sondern vor allem an den Tel Avivern selbst. Alles ist easy, relaxed, die Männer in kurzen Hosen, Männ­lein und Weib­lein in „Kaf­ka­fim“, Flip­flops. Man geht an den Strand oder sitzt bis weit nach Mit­ter­nacht in den Stras­sen­ca­fés – und irgend­wie ist ständig Party in der Stadt.

 

Tel Aviv ist der liberale Leuchtturm

Während die ortho­do­xen Par­teien bei den zuletzt geschei­ter­ten Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen von Ben­ja­min Net­an­yahu schon zuge­si­chert bekamen, dass in Zukunft bei offi­zi­el­len Ver­an­stal­tun­gen Männer und Frauen getrennt zu sitzen haben, feierte Tel Aviv die größte Pride Parade seiner Geschichte, mit über 250.000 Teil­neh­mern.

Die Stadt ist der libe­rale Leucht­turm nicht nur für Israel, sondern für die ganze Region. Nur wenige Kilo­me­ter von dieser Stadt ent­fernt, sei es in Ramal­lah oder Gaza, in Beirut, Damas­kus oder Amman, würden Men­schen der LGBTQ-Gemein­schaft geäch­tet, ver­folgt und viel­leicht sogar getötet werden. Und viele andere, die einfach einen offenen, plu­ra­lis­ti­schen und west­li­chen Lebens­stil genie­ßen wollen, auch.

 

Der Fun­da­men­ta­lis­mus in Jeru­sa­lem wird immer schlim­mer? Who cares

Tel Aviv war und ist anders. Eine Stadt voller Charme und Spaß, mit einem Nacht­le­ben, das reiz­voll für alle Genera­tio­nen ist, einer Kunst- und Kul­tur­szene, die für die so junge Stadt und Gesell­schaft beacht­lich ist. Man darf nicht ver­ges­sen: Tel Aviv ist gerade mal 110 Jahre alt. Und in ihr leben Men­schen aus der ganzen Welt: aus Afrika und Asien, aus Europa und den USA, aus Latein­ame­rika und dem Orient. Leben und leben lassen und: Spaß haben, soviel wie möglich – das ist die Devise dieser Stadt.

Und so ist es ein Leich­tes, in Tel Aviv zu ver­ges­sen, was im Rest des Landes und der Region vor sich geht. Der Fun­da­men­ta­lis­mus in Jeru­sa­lem wird immer schlim­mer? Who cares. Aus Gaza werden Raketen auf die Stadt abge­feu­ert? So what. Der Iran droht Israel mit Ver­nich­tung? The show must go on. All das scheint weit, weit weg zu sein von dieser Stadt.

Men­schen aus Tel Aviv sagen selbst, dass sie in einer Blase, auf Hebrä­isch: „Bu’a“, leben. Sie wählen über­wie­gend links, hassen Net­an­yahu, die Siedler und die Frommen, und sie sind ein ganz wesent­li­cher Bestand­teil der­je­ni­gen, die das BIP des Landes in immer neue Höhen treiben. Denn Tel Aviv, das ist auch das „Silicon Wadi“, wie der zweit­größte High­tech-Hub der Welt (nach dem Silicon Valley) genannt wird.

Damit ist die Stadt und natür­lich auch der weitere Ein­zugs­be­reich von Tel Aviv gemeint, wie etwa Herz­liah und andere Vororte, wo sich Tau­sende von Start-Ups und inter­na­tio­na­len R&D-Centers nie­der­ge­las­sen haben. Tel Aviv, das ist nicht nur das 21. Jahr­hun­dert, sondern das Tor zum 22. Jahr­hun­dert. Die Dynamik dieser Stadt ist atem­be­rau­bend: man denkt out of the box, anything goes, you don’t take no for an answer. 

 

Sind wir nicht alle ein biss­chen Tel Aviv?

Und doch spürt man – wenn man die Stadt lange und gut kennt, wenn man Teil dieser Stadt gewor­den ist – das Unbe­ha­gen der Men­schen, die Angst vor dem, was da kommen könnte. Die Bedro­hun­gen sind man­nig­fal­tig und im Grunde haben die Tel Aviver mehr Angst vor den eigenen Fun­da­men­ta­lis­ten im Land, den Feinden der Demo­kra­tie als vor den Paläs­ti­nen­sern, der Hiz­bol­lah oder dem Iran.

Allen ist klar, dass die große Sause ein Tanz auf dem Vulkan ist, viel­leicht ver­gleich­bar mit der Situa­tion im Berlin der Gol­de­nen Zwan­zi­ger. Der Unter­gang war zu spüren, aber Sex, Drogen und Tanz waren der Versuch, das dro­hende poli­tisch-gesell­schaft­li­che Unge­mach zu ver­drän­gen in jenem Babylon.

Doch sind inzwi­schen nicht alle west­li­chen Groß­städte in einer ähn­li­chen Situa­tion wie Tel Aviv? Wird nicht auch im auf­stre­ben­den, moder­nis­ti­schen Berlin sehr genau erspürt, dass Rechts­ex­tre­mis­mus, Ras­sis­mus und Anti­se­mi­tis­mus auf dem Vor­marsch sind? Erleben die Pariser nicht auch mit den „Gilets Jaunes“ einen begin­nen­den Anar­chis­mus, der die Gesell­schaft lang­fris­tig ver­än­dern und umwäl­zen könnte? Ganz zu schwei­gen von London, wo der Brexit droht? Oder New York, dessen derzeit berühm­tes­ter Bürger dem Libe­ra­lis­mus den Kampf ange­sagt hat?

 

Die Zer­brech­lich­keit der libe­ra­len Idee

Was Tel Aviver viel­leicht früher als alle anderen erspür­ten, ist die Zer­brech­lich­keit der libe­ra­len Idee. Die Feinde des Prin­zips sind buch­stäb­lich um die Ecke, das Land ist so klein, da sieht man den poli­ti­schen Gegnern quasi direkt ins Gesicht. Sie sind keine diffuse Masse, die irgendwo weit weg lebt, etwa „im Osten“, wie man in München oder Hamburg gerne sagt, selbst wenn das natür­lich nicht stimmt.

Der Tanz auf dem Vulkan. Viele Euro­päer können nicht begrei­fen, wie die Men­schen in Tel Aviv feiern, wenn an den Grenzen des Landes ein Krieg tobt, Bomben fallen, Men­schen sterben, die eigenen Sol­da­ten getötet werden. Doch diese ewige Party ist der Puls­schlag des gesam­ten Landes. Solange das Herz Tel Avivs schlägt, solange ist Israel am Leben und nicht ver­lo­ren.

An dem Tag, an dem die Tel Aviver nicht mehr aus­ge­hen, feiern, trinken, lachen, tanzen, an dem Tag wird es düster. Das war schon einmal der Fall: 1991, zu Beginn des Golf­krie­ges, als man fürch­ten musste, dass Saddam Hussein mit seinen Raketen Giftgas, deut­sches Giftgas, über Tel Aviv abfeu­ern würde. Als aber klar wurde, dass dem nicht so sein würde, ging die Party sofort wieder los. Noch während des Krieges. Und das ist gut so.

 

Richard C. Schneider, Tel Aviv

Der Artikel erschien am 25. Juni im Zentrum Liberale Moderne

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