Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona, 8

Benny Gantz, der große Herausforderer von Netanyahu, der in drei Wahlen mit Blau-Weiß angetreten war, um Netanyahu endlich abzulösen, um einen Mann, der bald vor Gericht stehen wird, aus der Verantwortung für den Staat zu treiben, um endlich wieder für common sense zu sorgen, für demokratische, liberale und ethische Werte, wurde gestern schwach. Und entschied sich, mit Netanyahu in eine große Koalition zu treten. Das Blau-Weiße Bündnis ist nun seit gestern, denn die beiden Partner Yair Lapid mit seiner Partei Yesh Atid und Moshe „Boogie“ Yaalon mit seinen Gefolgsleuten kündigten ihren Widerstand und den Gang in die Opposition an.

Belogen und Betrogen

Was war nur in Benny Gantz’s Kopf gefahren? Mit seiner Entscheidung hat er nicht nur seine Wähler belogen, betrogen und hintergangen. Er ermöglicht dem Angeklagten Netanyahu weiterhin an der Macht zu bleiben. Natürlich wird das jetzt als „Not“ verkauft angesichts von Corona. Der nationale Notstand erfordere jetzt die Bündelung aller Kräfte etc. – was Politiker halt so sagen. Angeblich will sich Netanyahu in 18 Monaten aus dem Amt zurückziehen, eine Rotation zulassen und dann hieße der neue Premier Benny Gantz. Womöglich glaubt Gantz selbst daran, daß seine Entscheidung angesichts der Gefahr, in der sich das Land befindet, die richtige war.

Rotation oder keine Rotation, das ist die Frage

Doch wird Bibi sein Amt tatsächlich an Gantz abgeben? Viele israelische Beobachter vermuten, dass der schlaue und gewiefte Bibi, wie Netanyahu in Israel nur genannt wird, bis dahin irgendeinen Trick gefunden haben könnte, um die zugesagte Rotation zu verhindern und Gantz aus der Koalition zu werfen. Oder aber, er wird den Sitz des Premiers, den er seit 2009 innehat, tatsächlich aufgeben und sich zum Nachfolger von Reuven Rivlin wählen lassen. Rivlin, Israels Staatspräsident, geht nächstes Jahr nach sieben Jahren regulärer Amtszeit in Rente. Bibi könnte seine politische Karriere als Staatspräsident seines Landes beenden – mit einer Immunitätsklausel auf Lebenszeit, wie sie dem Präsidenten des Landes zusteht. Er würde niemals verurteilt werden können, er würde niemals in Gefängnis müssen. Denn das – so denken viele – ist das einzige Thema, das ihn im letzten Jahr noch wirklich interessiert hat.

Schaden am System

Selbst wenn es vielen Israelis egal wäre, ob er in den Knast müsste oder nicht („Hauptsache er wäre weg“), so wäre diese Entwicklung für die demokratischen Grundverhältnisse in Israel fatal. Möglicherweise hat Benny Gantz, der ehemalige Generalstabschef der Armee, Recht, den Kampf gegen Corona allen anderen Überlegungen vorzuziehen. Aber irgendwann, irgendwann hoffentlich, wird Corona Geschichte sein. Und der Schaden, der Israels demokratischen System zugefügt wurde und möglicherweise weiter zugefügt werden wird, ist immens und wird Folgen für die Zukunft des Landes haben. Aber noch einmal: Dieses Problem wird sich möglicherweise im Zeichen von Corona auch noch in vielen anderen Ländern und eben auch in Europa, auftun. Wie weit darf der Staat gehen mit der Überwachung und Kontrolle, um Menschen zu retten? Wie weit kann der Staat das „checks and balances“ aushebeln, um effektiv auf eine Pandemie zu reagieren? Und: Wird der Staat, wenn alles vorbei sein wird, seine Entscheidungen, Regelungen, Gesetze wieder auf „Null“ setzen? Auf die Zeit vor Corona? Man sollte nervös bleiben diesbezüglich und der Politik überall zutiefst misstrauen. Dammbrüche sind nur schwer rückgängig zu machen.

Jihad? Was ist das?

Und war da eigentlich noch etwas im Nahen Osten? Es ist faszinierend, wie wenig man im Augenblick von „Jihad“ oder Krieg oder Kampf zur „Befreiung Palästinas“ hört. Jeder ist mit sich selbst beschäftig, jeder versucht seine eigenen Probleme mit Corona irgendwie zu bewältigen. Für politische Querelen, insbesondere zwischen Palästinensern und Israelis, scheint im Augenblick nicht die Zeit, nicht der Platz. Israel versucht Palästinenserpräsident Abbas im Kampf gegen Corona zu helfen, auch Gaza wurde mit einigen medizinischen Mitteln versorgt, aber das alles ist natürlich unzureichend angesichts der Tatsache, dass Israel selbst Versorgungsengpässe hat.

Wahlen? In den USA?

Nichtsdestotrotz: Der palästinensisch-israelische Konflikt scheint sich eine Auszeit genommen zu haben. Und Corona könnte womöglich dem umstrittenen „Friedensplan“ von Präsident Trump den Garaus machen. Denn sollte die wirtschaftliche und medizinische Lage in den USA immer schlimmer werden, sollte Donald Trump weiterhin eine dermaßen katastrophale Krisenpolitik durchziehen, könnte es sein politisches Ende bedeuten bei den Wahlen im November. Nur: Wird es überhaupt zu den Wahlen kommen? Trump könnte das eine oder andere von Bibi „lernen“ und sich „gut überlegen“, ob er eine Wahl in Krisenzeiten zulassen wird…

 

 

3 Gedanken zu „Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona, 8

  1. Read the article by Oded Carmeli in Haaretz:
    „Trump Is Right About The Coronavirus. The WHO Is Wrong, ‚Says Israeli Expert“
    English edition 03-21-2020
    Don’t miss it!

    1. Der Artikel ist vom 21.3.! Das sind Welten in diesen C-Zeiten. Inzwischen denkt Trump darüber nach ganz NY und andere Regionen unter Quarantäne zu stellen. Es geht auch nicht ums „Rechthaben“. Wir wissen alle nicht wie es letztendlich ausgeht. Hoffentlich gut! Allerdings gestehe ich, dass sich mein Vertrauen in Herrn Trump als Experten in diesen Krisenzeiten asymptotisch gegen Null bewegt.

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