Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona, 6

Seit 17 h israelischer Zeit dürfen wir uns – außer zum Einkaufen oder für einen Arztbesuch oder für eine Demo (hm….) – keine 100 m mehr von unserer Wohnung wegbewegen. Wir sind jetzt in einer neuen Form von Lockdown, doch es ginge – so die Drohung von Premier Netanyahu heute Abend bei seiner PK – noch schlimmer. Dann dürften wir überhaupt nicht mehr aus dem Haus. Nix mehr. Null.

Hörigkeit

Und was tun wir alle? Wir fügen uns. Denn wir alle haben Angst. Und irgendwie sehen wir die Maßnahmen ein. Sind ja zu unserem eigenen Schutz. Glauben wir. Hoffen wir. Das Problem: Gleichzeitig spielt sich in Israel ein politisches Drama ab, das vielen das Gefühl gibt, die neuen Maßnahmen könnten auch politisch bedingt sein. Und nicht nur zum Schutz der Bevölkerung.

Ausgehebelt

Das Oberste Gericht hatte entschieden: Parlamentspräsident Edelstein muß am heutigen Mittwoch die Wahl eines neuen Parlamentspräsidenten zulassen (und damit die Tür öffnen für eine Gesetzeseingabe, daß ein Angeklagter (Netanyahu) nicht mehr Premier werden darf). Edelstein hätte – wie sich das in einer normalen Demokratie gehört – dem Beschluß des Gerichts Folge leisten müssen. Stattdessen ist er zurückgetreten. Es kann nicht gewählt werden. Noch nicht. Frühestens in zwei Tagen. Das mag zwar viele nicht beunruhigen, so nach dem Motto: der ist doch jetzt weg, alles gut. Aber in Wirklichkeit ist das demokratische Gefüge ausgehebelt worden. Edelstein hat schlau agiert. Er ist zwar zurückgetreten, hat aber dem Gericht nicht gehorcht. Das wäre so, wie wenn der Bundestagspräsident einem Richterbeschluß des Verfassungsgerichts in Karlsruhe nicht Folge leistet. Undenkbar? Ja, sollte es eigentlich sein. In Israel ist es das seit heute nicht mehr. Nun tritt der Rücktritt Edelsteins in 48 Stunden in Kraft. Was geschieht bis dahin? Irgendeine neue Volte, um die Opposition, die in der Knesset die Mehrheit hat, nicht zum Zuge kommen zu lassen?

Machtspielchen

Abgesehen davon, daß die Demokratie in Israel gerade endgültig den Bach hinuntergeht, ist es buchstäblich ein Skandal, daß inmitten einer existentiellen Krise der gesamten Welt die Herren und Damen PolitikerInnen in Israel keine anderen Sorgen haben als ihre entsetzlichen Machspielchen zu spielen.

Die Zahl der Corona-Erkrankten steigt, ebenso die Zahl der Toten. Das Gesundheitssystem wird irgendwann zusammenbrechen, es gibt Tausend Probleme, wie überall, aber nein, in der Knesset geht es nur um den puren Machterhalt mit allen Mitteln.

Und die Menschen dürften zwar demonstrieren (und tun es zum Teil im Netz, nur sehr bedingt auf der Straße), aber letztendlich sind alle mit dem puren Überleben beschäftigt. Soviel Zynismus muß man als Politiker erst einmal aufbringen.

Die „Sicherheit“

Doch der Blick nach Europa zeigt, daß es in vielen Ländern dort auch nicht besser ist. Und wollte nicht Jens Spahn grad noch eine technologische Überwachung durchsetzen, die der in Israel verdammt ähnlich gewesen wäre? Doch die Bundeskanzlerin und einige andere sagten schließlich: Nein.

Wer sagt in Israel noch nein? Niemand. Denn tatsächlich sind Israelis gewohnt, für die „Sicherheit“ Fünfe schnell gerade sein zu lassen, mit anderen Worten: Bürgerrechte und Freiheiten freiwillig aufzugeben, wenn es um die Sicherheit des Landes geht. Das galt bislang stets im Zusammenhang mit Terror oder Krieg, jetzt also im Zusammenhang mit einem unsichtbaren Virus. Was das langfristig für Folgen haben könnte – keiner, oder zumindest: wenige, denken darüber nach.

Was wird aus uns, den sogenannten westlichen, „freiheitlichen“ Ländern, wenn dieser Irrsinn mit dem Virus irgendwann vorbei sein wird? Werden wir uns noch wiedererkennen? Werden wir in dieser „neuen Welt“ noch so leben können, wie wir uns „Freiheit“ und „Liberalismus“ heute vorstellen? Wie werden wir leben wollen? Wo? Und: Wozu? Worum geht es dann noch?

 

 

2 Gedanken zu „Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona, 6

  1. Erneut möchte ich positive Gedanken beisteuern. Sie bezeichnen das Virus als „Irrsinn“. Das ist es nicht, bereits vor Jahren haben Wissenschaftler seriös vor einem solchen Szenario gewarnt. Irrsinnig war allenfalls, dass es niemand der Verantwortlichen auf der Welt hören wollte. Ich kann die Situation in Israel natürlich nicht gut beurteilen (deshalb lese ich mit viel Interesse Ihren Blog) aber in Deutschland gibt es z. Zt. eine erstaunliche Einigkeit der politisch Handelnden, deren Entscheidungen zudem von 95% der Bevölkerung mitgetragen werden. Auch eine anfänglich irritierend verweigerte Solidarität beginnt allmählich, wie sich durch die Intensivbehandlung von Schwerstkranken aus Frankreich und Italien auf deutschen Intensivstationen zeigt. Man muss, wie ich, kein Parteigänger Angela Merkels sein, um sich darüber zu freuen, in diesen Zeiten von ihr und nicht einem testosterongesteuerten Narzissten regiert zu werden. Die UN hat die USA als künftiges Epizentrum der Pandemie ausgemacht. Spätestens dann werden viele Amerikaner einsehen, dass ein twitternder Phrasendrescher ungeeignet für seriöses Krisenmanagement ist. Und weiter: der z. Zt. noch ignorante Herr Putin wird bei weiterer Ausbreitung der Pandemie vielleicht keine finanziellen Mittel mehr haben, um wehrlose Menschen in Idlib ins Elend und in die Flucht zu bomben. Außerdem war die Luft über China, und demnächst überall, noch nie so sauber, wie nach dieser virusinduzierten Reduktion der Mobilität in der Luft, zu Wasser und auf dem Lande. Sie stellen am Ende Ihres Beitrages einige Fragen. Werden wir noch so leben können, wie wir es uns heute vorstellen? Ich hoffe nicht, sondern besser, weil solidarischer, genügsamer, achtsamer. Wo? Auf dieser Erde, nur die haben wir schließlich. Wozu? Um diesen Planeten zu einem besseren Zuhause für alle zu machen. Worum geht es dann noch? Trotz aller Krisen ja zum Leben zu sagen.

  2. Er (Govinda) sah seines Freundes Siddhartha Gesicht nicht mehr, er sah statt
    dessen andre Gesichter, viele, eine lange Reihe, einen strömenden Fluss
    von Gesichtern, von hunderten, von tausenden, welche alle kamen und
    vergingen, und doch alle zugleich dazusein schienen, welche alle sich
    beständig verwanderten und erneuerten, und welche doch alle Siddhartha
    waren. Er sah das Gesicht eines Fisches, eines Karpfens, mit
    unendlich schmerzvoll geöffnetem Maule, eines sterbenden Fisches, mit
    brechenden Augen–er sah das Gesicht eines neugeborenen Kindes, rot
    und voll Falten, zum Weinen verzogen — er sah das Gesicht eines Mörders,
    sah ihn ein Messer in den Leib eines Menschen stechen – -er sah, zur
    selben Sekunde, diesen Verbrecher gefesselt knien und sein Haupt vom
    Henker mit einem Schwertschlag abgeschlagen werden – -er sah die Körper
    von Männern und Frauen nackt in Stellungen und Kämpfen rasender
    Liebe – -er sah Leichen ausgestreckt, still, kalt, leer – -er sah
    Tierköpfe, von Ebern, von Krokodilen, von Elefanten, von Stieren, von
    Vögeln – -er sah Götter, sah Krischna, sah Agni – -er sah alle diese
    Gestalten und Gesichter in tausend Beziehungen zueinander, jede der
    andern helfend, sie liebend, sie hassend, sie vernichtend, sie neu
    gebärend, jede war ein Sterbenwollen, ein leidenschaftlich
    schmerzliches Bekenntnis der Vergänglichkeit, und keine starb doch,
    jede verwandelte sich nur, wurde stets neu geboren, bekam stets ein
    neues Gesicht, ohne dass doch zwischen einem und dem anderen Gesicht
    Zeit gelegen wäre – und alle diese Gestalten und Gesichter ruhten,
    flossen, erzeugten sich, schwammen dahin und strömten ineinander, und
    über alle war beständig etwas Dünnes, Wesenloses, dennoch Seiendes,
    wie ein dünnes Glas oder Eis gezogen, wie eine durchsichtige Haut,
    eine Schale oder Form oder Maske von Wasser, und diese Maske lächelte,
    und diese Maske war Siddharthas lächelndes Gesicht, das er, Govinda,
    in eben diesem selben Augenblick mit den Lippen berührte. Und, so sah
    Govinda, dies Lächeln der Maske, dies Lächeln der Einheit über den
    strömenden Gestaltungen, dies Lächeln der Gleichzeitigkeit über den
    tausend Geburten und Toten, dies Lächeln Siddharthas war genau
    dasselbe, war genau das gleiche, stille, feine, undurchdringliche,
    vielleicht gütige, vielleicht spöttische, weise, tausendfältige
    Lächeln Gotamas, des Buddha, wie er selbst es hundertmal mit Ehrfurcht
    gesehen hatte. So, das wusste Govinda, lächelten die Vollendeten.

    Hermann Hesse, Siddhartha

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