Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona, 21

Nach sechs Wochen bin ich heute das erste Mal wieder in Tel Aviv unterwegs gewesen. Nachdem die Maßnahmen gegen Corona ein wenig gelockert wurden, einige Geschäfte wieder aufmachten, bin ich heute einfach mal ins Stadtzentrum gefahren, um ein paar Besorgungen zu machen. Und spazierte natürlich auch durch die Straßen und Gässchen, die ich nun schon so lange nicht mehr gesehen habe. Die meisten Läden sind nach wie vor zu, aber auf den Straßen ist es wieder voll. Die Menschen gehen spazieren, mit Mundschutz. Der Autoverkehr ist zwar nicht wie „normal“, aber es geht schon sehr lebhaft zu. Anders als in Deutschland, durfte man ja hier wochenlang nur 100 m von der eigenen Wohnung und seit ein paar Tagen 500 m entfernt herumlaufen. Aber nachdem mehr und mehr Geschäfte geöffnet sind, fahren Israelis nun auch wieder in ganz andere Stadtviertel, um ihre Dinge zu erledigen – und um das gleichzeitig für ein wenig „Auslauf“ zu nutzen.

Achtung: Singapur

Ähnlich wie in Deutschland, ist inzwischen auch hier die Debatte ausgebrochen, wieviel „Freiheit“ man wieder zulassen kann, ohne daß eine „zweite Welle“ alles zunichte macht, was Israel inzwischen „geschafft“ hat. Mit im Augenblick 191 Toten steht das Land im internationalen Vergleich sehr gut da, die Zahl der Menschen, die an den Respiratoren hängen, ist im dreistelligen, sehr überschaubaren Bereich. Aber, wie wir wissen, kann das alles ganz schnell kippen – siehe z.B. Singapur.

Nur: Die Israelis haben es satt, weggesperrt zu werden. Und die Regierung merkt, daß dies auch kaum noch durchzuhalten ist, selbst wenn jetzt für den Unabhängigkeitstag, der am 28. April abends beginnt und am nächsten Abend zu Ende ist, nochmal eine absolute Ausgangssperre verhängt wurde.

Wäre ein totaler Lockdown besser?

Auch wenn ich heute in der Gegend um den Rothschild-Boulevard nur disziplinierte Menschen sah, die brav anstanden vor den Geschäften, immer im 2 m Abstand, und auch drinnen versuchten, sich nicht allzu nah zu kommen, auch wenn in vielen Geschäften nur 4 – 5 Kunden gleichzeitig drin sein dürfen, so gibt es doch – ich habe es ja auch in Yaffo erlebt – natürlich etliche, die die Gefahr nicht mehr „sehen“ wollen, die so tun, als ob jetzt alles vorbei sei.

Das Gesundheitsministerium warnt und warnt und warnt. Ähnlich wie einige Mediziner und Fachleute in Deutschland, die sagen, es müßte für vier Wochen nochmal ein total radikaler Lockdown durchgezogen werden, dann wäre wahrscheinlich wirklich was gewonnen.

Aber so müssen wir uns alle wohl damit auseinandersetzen, dass diese „Erleichterungen“, egal wo, schiefgehen könnten. Schiefgehen werden?

Kein Vertrauen in die Maßnahmen der Politiker

Und was hier noch schlimmer ist: Ein sehr großer Teil der Bevölkerung hat nun endgültig das Vertrauen in die Politiker verloren (es war schon vor Benny Gantz‘ Wahlbetrug ziemlich gering). Alle lügen, alle brechen Versprechungen auf schamloseste Weise, alle hintergehen das Volk, alle sind korrupt, wenn nicht finanziell, dann auf alle Fälle moralisch. Und das heißt, daß viele auch den Vorschriften in Sachen Corona nicht vertrauen, weil sie glauben, daß dies nur politische Tricks sind, um das Volk in Schach zu halten, um somit ungehindert machen zu können, was man will.

Das aber ist natürlich die totale Bankrotterklärung für ein politisches System, wenn die Mehrheit des Volkes nicht mehr daran glaubt. Aber im Augenblick auch zu schwach, zu müde, zu angestrengt von der Corona-Krise, der steigenden Arbeitslosigkeit, der Angst um die wirtschaftliche Zukunft ist, um sich gegen die Politiker zu erheben. Und zwar gegen alle Politiker. Es ist ja so gut wie niemand mehr übrig, dem man nicht nur vertrauen kann, sondern dem man auch zutraut, das Land führen zu  können.

Innere Emigration

Und so herrscht entweder gedrückte Stimmung oder aber eine „Pseudofröhlichkeit“, weil man die Politik bewußt ausblenden will, weil man sich auf das Private zurückzieht, in die „Innere Emigration“ begibt. Und weil die Menschen in den Zeiten des Virus natürlich erst einmal ganz andere Sorgen haben als die im Augenblick scheinbar noch abstrakte Beschädigung der Demokratie

No Atomstrom in my Wohnrom

Von einem Balkon auf dem Rothschild-Boulevard hing ein Leintuch herunter mit einem Slogan, auf Hebräisch natürlich: „Auch dieser Tag ist ein guter und schöner Tag“. Das letzte Mal, als ich so ein Leintuch aus einem Fenster hängen sah, war in Deutschland, in Bonn, vor vielen Jahren. Und da stand drauf. „No Atomstrom in my Wohnrom“, erinnern sich noch einige von Ihnen daran? Ich mußte heute daran denken. Das war während der größten Demonstration in der Geschichte der alten Bundesrepublik, als weit über eine Million Menschen in die damalige Hauptstadt gekommen waren, um gegen den NATO-Doppelbeschluß zu protestieren. Da gab es auch Leintücher, auf denen stand: „Du hast keine Chance, aber nütze sie“. Und wo stehen wir heute? Leider nicht in einer besseren Welt. Wir leben in einer Welt, in der ein US-Präsident den Leuten vorschlägt, sich Desinfektionsmittel gegen Corona zu spritzen, in einer Welt, in der ein Politiker Wahlkampf gegen einen wegen Korruption angeklagten Premier macht, um ihn abzusetzen und dann mit ihm gemeinsame Sache macht, in einer Welt, in der die Europäische Union unfähig zu sein scheint, gegen einen Viktor Orbán u.a. vorzugehen, in einer Welt, in der in einigen Staaten in der aktuellen Krise die „Alten“ gegen die „Jungen“ ausgespielt werden, in einer Welt, in der tatsächlich über den Wert des Lebens jenseits eines bestimmten Alters öffentlich debattiert wird. Weit sind wir seit damals, seit den frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts offensichtlich nicht gekommen.

Na, da sind wir doch so richtig schön auf das Wochenende eingestimmt. Bis nächste Woche! Alles wird gut.

 

4 Gedanken zu „Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona, 21

  1. Die abschließenden Worte können animieren zu einem Haiku :
    בסוף יהיה טוב
    כל זמן שזה עוד לא טוב
    זה עוד לא הסוף
    Am Ende wird´s gut,
    so lange es nicht gut ist,
    ist´s nicht das Ende.
    Inschallah

  2. Möglicherweise hilft eine invasive Beatmung bei der Therapie von schwer verlaufenden Covid-19 Erkrankungen auch gar nicht wirklich so viel. Vielleicht richtet sie sogar mehr Schaden an, als sie nutzt. Zumindest in den meisten Fällen. Eine Therapie mit Beatmungsmasken bei Bewusstsein könnte erfolgreicher sein. Zu diesem Schluss kommt eine Reportage von Monitor: https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/beatmung-101.html
    Und auch eine 95-Jährige Schweizerin, die Covid-19 überlebt hat, hat sich nicht beatmen lassen. Vielleicht hat ihr das sogar das Leben gerettet? https://www.spiegel.de/panorama/coronavirus-95-jaehrige-schweizerin-erholt-sich-von-covid-19-a-4aa4f602-fd4c-4146-9bf5-7d4aab734dca
    Und welche Länder die Krise wie gut gemeistert haben, werden wir erst am Ende der Krise sagen können, wenn auch klar ist, welchen sozialen und wirtschaftlichen Preis sie dafür zahlen mussten….

  3. Noch mal zum Thema, das die „Jungen“ gegen die „Alten“ ausgespielt werden: Ein andere Aspekt ist ja auch der, dass mit der Intensivbehandlung oft auch zu viel des Guten getrieben wird. Dann werden Leute auch dann noch therapiert, wenn es für sie gar keinen wirklichen Sinn mehr macht. Wie etwa Mathias Thöns es immer wieder beschreibt. Etwa in diesem Spiegelinterview: Medizin „Sie verdienen am Sterben“ https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-146501113.html. Oder in diesem Interview mit einem schweizer Journalisten auf youtube: https://youtu.be/SM79CFL5aw4
    Da ich auch Eltern habe, die Mitte achzig sind muss man sie da eben auch so seine Gedanken machen, was wann noch sinnvoll wäre. Und sie selbst haben natürlich auch eine entsprechende Patientenverfügung verfasst.

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