Liebe Leserinnen und Leser,
die letzten Wochen waren für uns alle ein gelinder Schock. Mit einem Mix aus Ungläubigkeit, Verdrängung und Panik, haben wir gesehen, was sich auf der Welt zunehmend ausbreitet. Hier in Israel ist der Ausnahmezustand schon früher über uns hereingebrochen als in Deutschland. Vor drei Wochen sollte es eine große Tagung in Deutschland geben, eine deutsch-israelische. Und während die Israelis schon anfingen abzusagen, weil man die Lage hier schon als sehr gefährlich und gravierend einschätzte und man Versammlungen schon damals anfing zu vermeiden, hatte man in Deutschland noch Veranstaltungen mit 300, 500 Menschen durchgezogen. Die meisten Israelis (übrigens auch Palästinenser) sagten ihr Kommen allein schon deswegen ab, weil man bei der Rückkehr in eine 14tägige Quarantäne gemusst hätte. Denn zu dem Zeitpunkt wurde Deutschland von den israelischen Behörden bereits als gefährlich eingestuft.
Tel Aviver Gedanken zu Corona
Immer schneller kamen immer neue Verordnungen in Israel, um den weiteren Ausbruch von Corona irgendwie in den Griff zu bekommen. Das öffentliche Leben ist hier schon viel früher erstorben als in Deutschland. Erst gestern sah ich in den Nachrichten, daß immer noch viele Menschen in Deutschland in Parks hautnah aufeinander sitzen, daß sie sich lustig machen über Corona, daß sie Party machen. Menschenmassen, einer neben dem anderen. In Israel: längst undenkbar. Noch vor zehn Tage saßen Menschen am Strand, aber dann kam die Ansage, daß das nicht geht. Schwupps – kein Mensch mehr am Meer. Vorbei. Aus.
Keine Hamsterkäufe
Hamsterkäufe gab es gerade mal zwei Tage. Dann hatten die Israelis begriffen, daß es a – gefährlich ist, weil zu viele Menschen aufeinander kleben. Und b – daß es wirklich nicht nötig ist. Es ist alles da, es gibt alles, die Versorgung ist garantiert. Es gibt bei uns hier Toilettenpapier in Hülle und Fülle, alles kein Problem.
Die Menschen warten inzwischen diszipliniert vor den Läden, bis sie rein dürfen. Alle im Sicherheitsabstand von zwei Metern. In den Läden ist meistens jemand, der sagt: Der Nächste bitte – und dann geht’s weiter. Man muß „Savlanut“ mitbringen, Geduld. Aber so ist das nun mal in diesen neuen Zeiten.
Krisengewöhnt?
Der Vorteil gegenüber Deutschland ist vielleicht, daß die Gesellschaft hier Krisen gewöhnt ist. Kriege sind auch immer ein Ausnahmezustand, die Art und Weise, wie die Menschen sich in solchen Zeiten verhalten – diszipliniert, hilfsbereit etc. – ist etwas, was dieser neuen, allerdings gänzlich unbekannten Krise zugute kommt. Inwiefern das Gesundheitssystem das alles packen wird – das weiß im Augenblick noch niemand. Genau deswegen sind die Maßnahmen im Land aber auch so drakonisch, um keine Katastrophe aufkommen zu lassen, selbst wenn israelische Experten davon sprechen, daß „Zehntausende“ im Land wohl sterben werden.
Die Frommen vertrauen lieber auf Gott
Es gibt allerdings gesellschaftliche Gruppen auch hier, die zumindest bis gestern einfach nicht begreifen wollten, was Sache ist. Allen voran: Die Ultraorthodoxie. Da wurde fröhlich weiter in Gruppen Thora studiert, man traf sich weiterhin zum gemeinsamen Gebet (mindestens zehn Männer sind dazu notwendig), man feierte Hochzeiten (eine wurde gestern von der Polizei gewaltsam aufgelöst). Inzwischen greift der Staat da endlich durch und einige Rabbiner scheinen zu begreifen, daß man sich zwar auf Gott verlassen kann, daß man aber auch selbst ein bisserl was dazu beitragen muß, daß er auch wirklich hilft…
Der Makolet um die Ecke
Nachbarschaftshilfe wird groß geschrieben. Um die Ecke, wo ich wohne, gibt es einen Makolet (frei übersetzt: „Tante-Emma-Laden“), der einem arabischen Ehepaar gehört. Die beiden sind gerade die Engel unseres Viertels. Sie arbeiten rund um die Uhr, machen Besorgungen, holen alles, liefern aus, kümmern sich um die Versorgung, selbst mit Dingen, die sie normalerweise nicht in ihrem Laden haben. Sie haben inzwischen nicht nur große Mengen an Desinfektions-Gel im Laden, sie haben auch neue Wischtücher im Sortiment, die die Stärke von „Economica“ haben, ein israelisches Putzmittel, mit dem man über Flächen, Türklinken etc. fährt und Bakterien und Viren abtötet. Sie haben auch Einweg-Handschuhe, denn die braucht es auch. Was sie nicht mehr hatten heute: Mundschutz-Masken.
So lief ich vor zur nächsten Apotheke. Der arabische Besitzer schaute mich verzweifelt an und meinte nur: Ich habe nichts mehr und weiß auch nicht, wann ich noch etwas bekomme. Ein anderer arabischer Kunde (ja, ich lebe in Yaffo), mit einer Maske, sagte mir, wo ich noch welche bekäme. Er gab mir die Adresse und ich lief sofort los. Dort traf ich ihn wieder, er hatte sein E-Bike genommen, ich bin lieber zu Fuß gegangen, um ein wenig Bewegung zu haben. Tatsächlich gab es dann in dem Laden Mundschutz-Masken. Sehr gute und weniger gute. Ich kaufte von beiden gleich je zehn Stück, nicht mehr, die anderen brauchen auch noch welche. Es wird nicht gehamstert. Niemand hamstert mehr.
Auf Hebräisch und Arabisch wünschte man sich „gute Gesundheit“, „Pass auf dich auf“ und ging wieder auseinander. Viele Geschäfte haben Tresen geschaffen. Ein Fenster ist offen, es wird sozusagen „über die Straße“ verkauft, damit niemand mehr reingehen muß, damit man auf Distanz bleibt.
Bidud – Quarantäne
Ich sitze nun schon fast eine Woche im auferlegten „Bidud“, der Quarantäne. Also nicht eine Quarantäne, weil man mit einem Kranken in Berührung kam (dann darf man nicht mehr auf die Straße für 14 Tage), sondern in der von der Regierung verordneten „Shut-down-Isolation“. Das ist wahrlich nicht einfach. Man macht allerlei emotionale Ups-and-Downs durch, die Sie alle wahrscheinlich inzwischen auch schon kennen. Da ist zunächst einmal die Angst zu erkranken, natürlich. Dann die Sorge um die Familie, die irgendwo weit weg ist – oder auch ganz nah – aber man kann eh nicht hin, die Distanz spielt keine Rolle mehr. Die Frage, wie lange das gehen wird, was das langfristig für politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche Folgen für die ganze Welt haben wird. Am schlimmsten aber: Niemand, absolut niemand weiß, wie lange das alles andauern wird. Das macht die Situation psychisch so wahnsinnig anstrengend.
Spaziergang im KZ
Und dann gibt es die „lustigen“ Momente. Meine 95jährige Mutter, die in München lebt und vier KZ der Nazis überlebt hatte, telefonierte mit mir, fragte mich vor ein paar Tagen, ob ich jemanden getroffen hätte. Ich erklärte ihr: nein, das dürfen wir nicht mehr, man kann nur noch einen kleinen Spaziergang machen, etwas einkaufen, ansonsten muß man daheim bleiben. „Was?“, sagte sie, „man darf nicht mehr einfach so rumlaufen? Das ist ja schlimmer als im KZ“, lachte sie traurig-ironisch. „Wir waren draußen und liefen herum. Und weißt du, wenn die Sonne schien und keiner von den KZ-Wächtern geguckt hat, dann habe ich mich hingesetzt auf einen Stein und das Gesicht in die Sonne gehalten, um ein wenig Wärme abzubekommen“.
Ich mußte dann an all diejenigen denken, die im Netz verbreiten, wir lebten jetzt wie im Krieg. Nein, dem ist absolut nicht so. Zumindest im Augenblick nicht. Wir haben zu essen, wir haben zu trinken, wir haben ein gemütliches Bett. Davon hätte meine Mutter nur träumen können in den Kriegsjahren… Wobei ich wahrlich nicht herunterspielen will, welche katastrophalen wirtschaftlichen Folgen Corona für viele Menschen haben wird! Aber: wir sind nicht im Krieg.
Mahler-Symphonien!
Ich habe gestern angefangen Mahler-Symphonien zu hören. Warum? Weil sie den Untergang einer Welt erzählen, die es so nie mehr geben sollte. Und weil sie von der Ungewißheit erzählen, was nun kommen mag. Wir leben in genau solch einer Zeit. Es wird die Zeit vor und die Zeit nach Corona geben. Und ich kann mir schwer vorstellen, daß danach alles so sein wird, wie „vorher“.
Mut machen
Gestern sah ich einen Tweet von Gershom Gorenberg, einem israelischen Journalisten und Buchautor. Er schrieb: „I have such nostalgia for the distant days of youth, like February.”
Ja, genau so fühlt es sich an. Passen Sie auf sich auf. Ich werde jetzt regelmäßig aus der Tel Aviver Quarantäne schreiben. Versuchen, Ihnen auch ein bißchen Mut zu machen und selbst ein wenig „Struktur“ beizubehalten. Arbeiten, Filmprojekte vorbereiten, Schreiben, all das ist wichtig in solchen Zeiten. Durchhalten.
8 Gedanken zu „Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona – 1“
Ein sehr guter Text , Richard. Die Anekdote Deiner Mutter hat mich tief berührt. Alles Gute Dir und nach Israel!
Shalom nach Israel, Vielen Dank für ihre Situationsbeschreibung aus Israel. Savlanut, Solidarität und grosse Hilfsbereitschaft habe ich dort auch 1991 kennengelernt!! Davon könnten viele hier in Deutschland lernen!!
Bleiben Sie gesund und passen Sie gut auf sich auf!
liebe Grüsse
……selbst ein bisserl was….
Da schimmert der Bayer im Schneider durch.
Stimmt 🙂
Lieber Richard,
ich stöbere immer wieder in deinem Blog herum und dieser Artikel gibt ein wirklich gutes Bild ab, wie Israel in der Krise tickt. Meinst du, dass die Forschung in Israel bald was gegen das Corona2-Virus anbieten kann? Vielleicht solltest du die Altersweisheit deiner Mutter öfter mal einbinden 🙂 Gruß von Martina, sie liest auch deine Artikel,
Grüße aus Shutdown-Munich,
Thomas
Lieber Thomas, ich hoffe, es geht Euch allen gut!! Vor kurzem hieß es, ein israelisches Labor hätte in drei Monaten einen Impfstoff, aber das glaube ich nicht. Das war sicher übertrieben. Ich wäre jetzt auch gern in München – in der Nähe meiner Mutter, die allein ist. Aber ich komme hier nicht mehr raus… Passt auf Euch alle auf!! Bis bald mal hoffentlich auch persönlich!! Richard
Ich lese leider nur zu wenig über die Sorge, dass die Corona-Epidemie in Israel zu anderen Zwecken missbraucht wird, zum Beispiel zur Einengung des Justizsystems und der Demokratie.
Danke! Zuhause laut vorgelesen. Freuen uns auf mehr. Ihr