Bei den Parlamentswahlen in Israel kämpft Regierungschef Benjamin Netanjahu um sein politisches Überleben. Um seine Macht zu halten, ist ihm so ziemlich jedes Mittel recht.
Noch immer vermag Israels Premier Benjamin Netanjahu für Schlagzeilen zu sorgen, auch wenn ihm das Wasser politisch bis zum Hals steht. So sollte seine gestrige Ankündigung, er wolle nach seiner Wiederwahl am 17. September das Jordantal annektieren, wie ein Paukenschlag wirken.
Das Jordantal ist ein wichtiger Teil des Gebietes, das irgendwann mal ein palästinensischer Staat sein soll. Auf den ersten Blick ein Skandal – und brav hüpften die Medienvertreter und auch so mancher Politiker im In- und Ausland über das Stöckchen, das Netanjahu ihnen hinhielt. Doch zum einen ist nicht klar, ob er im Falle eines Sieges dieses Versprechen umsetzen würde. Zum anderen: Selbst die Regierung Obama hatte bei den Friedensverhandlungen 2014 zugestimmt, dass Israel aus Sicherheitsgründen im Jordantal bleiben würde, eine Sicht, die fast alle Parteien in Israel teilen.
Deswegen ist der Widerspruch von Netanjahus politischen Gegnern verhalten. Sie erkennen zudem, dass Netanjahus Ankündigung auch ein Zeichen seiner Schwäche und beginnenden Ohnmacht sein könnte. Denn fast zeitgleich verkündete US-Präsident Donald Trump, dass er sich von seinem Nationalen Sicherheitsberater John Bolton trennt, ein Indiz dafür, dass Trump vorhat, sich mit Irans Präsidenten Ruhani zu treffen – was Netanjahu vehement ablehnt. Wenige Tage vor den Parlamentswahlen scheint Netanjahus Einfluss auf das Weiße Haus in Sachen Iran zu schwinden. Zudem scheint es so gut wie sicher, dass Netanjahu keine Mehrheit zustande bringen wird. Und wenn er unter Druck gerät, dann reagiert der Premier gerne panisch. Das wissen in Israel alle, auch seine Gegner.
Seit 2009 ist Benjamin Netanjahu israelischer Premierminister und nach zehn Jahren sind zum ersten Mal seine Aussichten schlecht. In der liberalen Welt wird er verachtet für seine Politik gegenüber den Palästinensern, für seine Freundschaften mit Führern sogenannter illiberalen Demokratien, für seine engen Beziehungen zu Trump und nun auch zu Brasiliens Jair Bolsonaro. Ihm droht eine Anklage in drei Fällen wegen Korruption, das aufgeklärte Israel hasst ihn, die Medien decken einen Skandal nach dem anderen auf. Und doch: Noch hat Netanjahu die Wahlen nicht verloren.
Die Knesset, das israelische Parlament, hat 120 Sitze. Wer eine Koalition mit 61 Sitzen zustande bringt, kann regieren. Das linksliberale Lager hat schon lange keine Chance mehr, an die Macht zu kommen. Die Mehrheit in der Knesset stellen die rechten Parteien, allen voran Netanjahus Likud, und die religiösen Gruppierungen, die seit Jahren nur mit der Rechten koalieren. Dass Netanjahu bei der letzten Parlamentswahl im April keine Koalition zustande brachte, lag an einem Mann: Avigdor Lieberman.
Selbst ein Rechter, der aus der ehemaligen UdSSR stammt, ist Lieberman ein antireligiöser Mann. Ihn verbindet mit Netanjahu eine langjährige politische Beziehung, Lieberman war lange Netanjahus Büroleiter. Doch die beiden Männer entzweiten sich. Lieberman gründete eine eigene Partei, die zwar Koalitionen mit dem Likud einging, sich aber immer wieder mit Netanjahu anlegte. Als Netanjahu nach den Parlamentswahlen im April eine Koalition bilden wollte, durchkreuzte Lieberman seine Pläne. Ihm gingen die Zugeständnisse an die orthodoxen Parteien zu weit, er weigerte sich, mit seinen fünf Sitzen der Koalition beizutreten, Bibi hatte keine 61 Mandate.
Avigdor Lieberman als Königsmacher
Der ehemalige Außen- und Verteidigungsminister sah seine Stunde gekommen, sich politisch an Netanjahu für jahrelange Ranküne zu rächen. Sein aktueller Wahlkampf ist erfolgreich, er könnte nun auf zehn Mandate kommen und würde damit endgültig zum Königsmacher. Denn ohne ihn würde eine rechte Koalition diesmal erst recht keine Mehrheit bekommen. Lieberman will im Augenblick nur zwei Dinge: Netanjahu nach Hause schicken und die Macht der Frommen endgültig brechen.
Und doch. Netanjahu hat noch nicht verloren. Das liegt zum einen an seinen schwachen politischen Herausforderern, zum anderen an seinem perfiden Wahlkampf, aber auch an seinen Leistungen für Israel, insbesondere in Sachen Sicherheit.
In den vergangenen zehn turbulenten Jahren im Nahen Osten, mit Beginn des Arabischen Frühlings, der sich zu einem Bürgerkrieg im beinahe gesamten arabischen Raum ausweitete, war es Bibi gelungen, Israel aus dem Chaos weitgehend herauszuhalten. Doch der Machteinfluss des Iran in Israels Nachbarländern wuchs. Die Mullahs haben ein klares Ziel: die Vernichtung Israels. Iran liefert Waffen, Personal und Training nicht mehr nur in den Libanon zur Hisbollah-Miliz, sondern auch nach Syrien und in den Irak, sodass die israelische Armee sich gezwungen sieht, dagegen vorzugehen. Netanjahu machte das bislang überaus geschickt.
Netanjahu appelliert an die niedrigsten Instinkte der Wähler
Diplomatisch gelang es ihm, nicht nur Trump auf seine Seite zu ziehen, sondern auch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin Beziehungen so erfolgreich aufzubauen, dass dieser ihn in Syrien und Libanon gewähren lässt. Netanjahu agiert vorsichtig, wenn es um militärische Konfrontationen geht. In seiner Amtszeit gab es weniger Kriege, Terroranschläge und Tote als je zuvor. Diese Bilanz und seine Propaganda, dass nur er die Sicherheit Israels garantieren könne, hat selbst bei jenen verfangen, die ihn politisch ablehnen. So hört man in diesem Wahlkampf immer wieder von Israelis, die Netanjahu zwar als Gefahr für die Demokratie sehen, doch Zweifel haben, ob seine Konkurrenten in der Lage wären, Israel durch diese schwierige Zeit zu steuern.
So wie mit seiner Annexionsankündigung hat Netanjahu in den vergangenen Tagen immer wieder Überraschungen platzen lassen, die ihm bei seiner potenziellen Wählerschaft helfen sollen. So wollte er mit Gewalt ein Gesetz durchbringen, dass am Wahltag in den Wahlkabinen gefilmt werden darf, um „zu garantieren, dass alles mit rechten Dingen zugeht“. Das sollte in erster Linie die arabische Wählerschaft einschüchtern. Doch wenngleich der Gesetzentwurf abgeschmettert wurde, hat Netanjahu bei Donald Trump gelernt: Er stellt seine mögliche Wahlniederlage schon im Vorfeld als Komplott der Medien, der „Linken“ und der arabischen Bevölkerung im Lande dar. Er wird nicht müde, das immer und immer wieder zu betonen.
Was das langfristig für Israels Demokratie bedeuten könnte, kann noch nicht abgeschätzt werden. Aber dass Netanjahu an die niedrigsten Instinkte der Wähler appelliert, ist eine Katastrophe für die politische Kultur des Landes. Netanjahu, der zwar immer schon rechts war, aber in seinen Anfängen noch ein Demokrat, hat sich zu einem Demagogen entwickelt, dem fast jedes Mittel recht zu sein scheint, um sich an der Macht zu halten.
Netanjahus Herausforderer: uninspiriert, schwach, langweilig
Im Winter droht ihm eine Anklage wegen Korruption, die ihn ins Gefängnis bringen könnte. Im Oktober muss er zu einer letzten Anhörung, ehe die endgültige Anklage folgt. Netanjahu möchte eine Mehrheit bekommen und mit ihr ein Gesetz durchpeitschen, das ihm nicht nur Immunität garantiert, sondern dem Obersten Gericht untersagt, dieses Gesetz auszuhebeln. Damit hätte er sich gerettet – und zugleich die letzte Bastion des liberal-demokratischen Landes, die unabhängige Justiz, vernichtet.
Und doch könnte er die Parlamentswahlen noch gewinnen. Seine Herausforderer sind uninspiriert, schwach und langweilig. So war der Wahlkampf des ehemaligen Generalstabschefs Benny Gantz und seinem Blau-Weiß-Bündnis schon im letzten Wahlkampf. Dennoch erzielte seine Partei 35 Mandatssitze, ebenso viele wie der Likud von Netanjahu. Das lag nur daran, dass viele Menschen Netanjahu loswerden wollten. Den Preis bezahlten die linke Meretz-Partei und die Arbeitspartei, die einst das Land gegründet und aufgebaut hat. Um Netanjahu loszuwerden, wählten viele Linke taktisch, also Gantz. Man hätte meinen können, dass Gantz nun einen aggressiveren Wahlkampf führen würde. Doch Gantz fehlt, was Netanjahu hat: Charisma, Siegeswillen, Überzeugungskraft. In den vergangenen Wochen war in seinem Bündnis zudem Streit ausgebrochen, Blau-Weiß war mehr mit sich als mit dem politischen Gegner beschäftigt.
Die Linke hat keine aussichtsreichen Kandidaten
Einige israelische Medien prophezeien Gantz einen Sieg, weil er den Menschen etwas „Normalität“ bringen könnte. Ein Mann, der aus der Mitte der Gesellschaft kommt, der anständig ist und ein bisschen schüchtern, ein Gegenpol zu Netanjahu, der sich mit Havannas und Single Malt Whiskey beschenken lässt und abgehoben wirkt. Doch eine „Mitte-links“-Koalition wird Gantz kaum zustande bringen.
Denn die Linke hat keine aussichtsreichen Kandidaten. Die Arbeitspartei unter Amir Peretz siecht vor sich hin. Peretz, einst ein wichtiger Gewerkschaftsmann, einige Jahre Verteidigungsminister und Vater des Iron-Dome-Abwehrsystems, das Israel vor Raketenangriffen schützt, hat die Partei von Avi Gabbay übernommen, der sie auf ein absolutes Tief bei den letzten Wahlen gebracht hat. Als Peretz nun für diese Wahl eine Verbindung mit der Gesher-Partei von Orly Levy-Abecassis eingegangen war, schien das Los besiegelt. Peretz und Levy-Abecassis stehen für soziale Themen, beide sind orientalische Juden. Doch Gesher wäre auch früher schon bereit gewesen mit Netanjahu zu koalieren, und selbst Peretz hat Andeutungen in diese Richtung gemacht. Das dürfte viele traditionelle sozialdemokratische Wähler verschrecken.
Nur vor Ehud Barak fürchtet sich Netanjahu
Und dann ist da noch die linke Meretz-Partei, die sich mit einer neugegründeten Partei des ehemaligen Premier- und Verteidigungsministers Ehud Barak zur Demokratischen Union zusammengetan hat. Meretz ist die Partei des linksliberalen Tel Aviver Bürgertums, eine Minderheitenpartei seit Jahren. Von den Kandidaten der Demokratischen Union könnte es nur Ehud Barak mit Netanjahu an Erfahrung aufnehmen. Der 77-jährige ehemalige Generalstabschef war Netanjahus Vorgesetzter in der Elite-Einheit Sayeret Matkal. In den Neunzigerjahren schlug er Netanjahu bei den Paralmentswahlen und wurde Premier, bis vor wenigen Jahren war er dessen Verteidigungsminister. Barak kennt Netanjahu in- und auswendig, Netanjahu hat nur vor ihm Angst.
Doch Barak und sein Bündnis haben keine Chance, mehr als sechs oder sieben Mandate zu bekommen. Zu viele Israelis mögen Barak wegen seiner Arroganz nicht. Und die Araber, von denen viele im April Meretz gewählt haben, dürften diesmal ihre Stimme woanders abgeben. Denn als Premier hatte Barak im Jahr 2000 die Tötung von zwölf israelischen Arabern zu verantworten, die von der israelischen Polizei bei Demonstrationen erschossen wurden. Kurz vor dem Zusammenschluss seiner Partei und Meretz vor wenigen Wochen hatte sich Barak dafür entschuldigt und die Verantwortung übernommen. Aber unter den arabischen Israelis nimmt ihm kaum jemand die späte Reue ab. So könnte Barak für die Demokratische Union eher zur Last werden als ein Gewinn sein.
Und damit sind wir wieder bei Avigdor Lieberman, dem wahrscheinlichen Königsmacher bei diesen Wahlen. Er träumt von einer Koalition zwischen Blau-Weiß, seiner Partei Yisrael Beiteinu („Israel, unser Haus“) und dem Likud – ohne Netanjahu. Denn sollte Netanjahu keine Koalition zustande bringen, dann könnte der Likud seinen Führer schassen, so Liebermans Hoffnung, die auch Benny Gantz teilt. Auch die frommen Parteien hätten das Nachsehen. Doch noch ist nichts entschieden. Und dem ruchlosen Wahlkämpfer Netanjahu ist noch viel zuzutrauen.
Richard C. Schneider, Tel Aviv
Der Artikel erschien am 11.9.2019 auf Zeit Online
Ein Gedanke zu „Vom Demokraten zum Demagogen“
Man mag von Lieberman halten, was man will, aber er ist keineswegs „anti-religiös“, sondern einfach nur säkular. Er arbeitete auch jahrelang mit den National-Religiösen und „Ultra-Orthodoxen“ gut zusammen.