Ein Hauch von Stetl

Freunde werfen mir oft vor, ich sei sentimental. Nun, das mag stimmen oder nicht. Auf alle Fälle bin ich in diesen Tagen traurig, weil die Mütter zweier Kindheitsfreunde und -bekannte gestorben sind. Sie waren hochbetagt, insofern ist deren Sterben natürlich und „in Ordnung“, anders als wenn jemand in jungen Jahren aufgrund von Krankheit oder Unfall oder – in dieser Region hier – durch Krieg oder Terror sterben muß. Aber natürlich ist jeder Tod von Bekannten, Freunden, Verwandten traurig.

In diesem Fall kommt noch hinzu, daß die beiden Frauen Holocaust-Überlebende waren. Die Generation stirbt aus und mit ihr auch die Erinnerung – nein, nicht nur an den Holocaust – sondern, für mich vielleicht fast noch wichtiger: die Erinnerung an das jüdische Leben in Europa vor dem Zweiten Weltkrieg.

Ein Hauch von Stetl

In der jüdischen Gemeinde in München hatten wir Kinder das Glück noch so einen Hauch des einstigen osteuropäischen Stetls zu erleben. Wir wuchsen mit Jiddisch und vielen osteuropäischen Sprachen auf, aber mehr noch mit Traditionen und Gewohnheiten, mit Mentalitäten und Aberglauben, mit Lebensformen und Idiosynkrasien, wie sie nur das Stetl hervorgebracht hatte. Wir konnten erahnen wie reichhaltig, wie fromm, aber durchaus auch wie eng und starr und konservativ und vor allem: schwierig das Leben der Juden in Osteuropa war.

Häufig erfuhren wir nur Bruchstückhaftes über die Zeit in den Lagern, auf der Flucht, im Untergrund. Unsere Eltern konnten oder wollten darüber nur selten sprechen. Manche taten es dennoch, aber die meisten wollten – mehr oder weniger – uns Kinder verschonen mit den gräßlichen Geschichten.

Es gab kaum noch Fotos

Manche waren nicht einmal in der Lage über die Zeit vor dem Krieg zu erzählen. Mein Vater zum Glück schon, manche andere auch. Und so erfuhren wir etwas über unsere Vorfahren, die wir nie kennenlernen durften, weil sie in den Krematorien irgendwo in Polen in Rauch aufgingen. Wir erfuhren wie sie hießen, was sie machten, wie sie lachten, wie sie aussahen… das meistens nur über Beschreibungen, denn es gab oftmals keine Fotos mehr, es war ja alles verloren.

Mein Vater hatte von daheim nur ein paar wenige Fotos. Ein Foto seiner Mutter, aber nicht seines Vaters oder seiner Geschwister. Und ein Foto mit der gesamten Schule. Da trug er eine Schiebermütze und kurze Hosen, wie das jüdische Kinder im Stetl so trugen. Es gibt auch noch ein Foto von ihm mit Pajes (Schläfenlocken) und Zizit (den Schaufäden), einer knielangen Hose und barfuß vor dem Gemischtwarenladen seines Vaters…

Verdrängung und Vergnügungssucht

Und ähnlich war es bei meiner Mutter… die paar wenigen Fotos aus der Kindheit und der Zeit vor dem Krieg, die sie retten konnte, mußten ausreichen, um uns Nachkriegskindern ein Gefühl zu geben, wie das damals so war. Und eben die Erzählungen. Die Erzählungen, die wir aufsogen. Sie waren so bunt und spannend und aufregend. Die Zeit vor dem Krieg, sie schien viel interessanter zu sein als die Zeit, in die wir hineingeboren waren. Und die Zeit nach dem Krieg – die war nun wahrlich aufregend. Wie unsere Eltern nach der Shoah ein neues Leben aufzubauen versuchten, wie sie vor den Kommunisten flohen, wie sie in der Fremde, in Deutschland zumal – ausgerechnet Deutschland! – ein neues Leben hatten, irgendwie. Mit viel Verdrängung und noch mehr Vergnügungssucht, denn nach dem Konzentrationslager wollte man nur noch eins: leben. Leben und vergessen. So wie die Deutschen leben und verdrängen wollten. Darin zumindest war man sich sozusagen „einig“ – bloß nicht mehr zurückschauen. Wenngleich aus  s e h r unterschiedlichen Gründen…

Die Fackel weitertragen

Und nun tritt die Generation unserer Eltern ab. Einfach so. Auf dem Friedhof traf ich viele Jugendfreunde und Bekannte aus München. Teilweise hatte ich sie mehr als 30, 40 Jahre nicht mehr gesehen. Aber wie das bei Kindheitsfreunden so ist: man ist sich sofort nah, als ob keine Zeit vergangen sei. Und wir sahen uns an, wir die wir nun auch schon grau sind. Wissen, daß wir nun die „Nachfolger“ sind, diejenigen, die die „Fackel“ weitertragen müssen. Aber die Zeit vor dem Krieg, das Wissen um unsere Familien, um das jüdische Leben von einst – es ist jetzt nur noch Second Hand zu haben. Gar nicht zu reden von der Shoah selbst…

Der Bruch in der jüdischen Geschichte, den die Nazis mit der Ermordung des europäischen Judentums bewirkt hatten, dieser Bruch wird für uns nun allmählich gefühlte Realität. Das ist nicht nur traurig. Das ist bitter. Und so ist das Sterben unserer Elterngeneration einfach ein Aus für eine Ära, die wir einfach nie wirklich organisch und natürlich im Übergang erleben durften.

Ach ja… und was es jetzt gibt, das nennt sich in Deutschland „Gedenkkultur“. Schrecklich.

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