Es ist Freitag morgen … in Tel Aviv heißt das: alles ist um mehrere Stufen nach unten geschaltet. Der Freitag in Israel ist so wie der Samstag in Deutschland. Der Tag vor dem Ruhetag. Aber eigentlich ist der Tag davor der schönere Tag. Denn er ist der Tag der Vorfreude auf den Ruhetag, die plötzliche Ruhe die Eintritt ist herrlich, man weiß aber auch, daß die Geschäfte noch bis mittags offenhaben, also irgendwie ist alles locker aber auch noch möglich … In Deutschland mag ich den Samstag auch lieber als den Sonntag. Der Sonntag ist so »leblos« … was man vom Shabbat in Tel Aviv zwar nicht sagen kann, aber… jetzt schweife ich ab.
Also Freitag morgen, ich trinke in der Früh ausnahmsweise nicht Tee, sondern einen großartigen Espresso, den ich mir aus Italien besorge (das Beste an Italien :-), frisch gemahlen. Es duftet im Wohnzimmer, die Zeitungen liegen bereit, die Bücher, die ich alle parallel lese …
Man müsste Misanthrop werden, wenn man’s nicht schon wäre
Nun könnte ich ja sagen: das Leben ist schön (ist es ja auch). Doch kaum hat mich der Koffein-Kick ein wenig munterer gemacht, fällt mir ein, was es in der abgelaufenen Woche so gegeben hat: Die Krise in Deutschland und Europa, der Angriff auf die »Kataib Hezbollah« an der irakisch-syrischen Grenze, der womöglich von Israel durchgeführt wurde, die brennenden Kites an der Grenze zu Gaza, Viktor Orbán und seine neuen, menschenverachtende Gesetze, die weinenden Kinder in den amerikanischen Lagern, Sarah Netanyahu, die nun wegen Betrugs und Veruntreuung angeklagt wird (eigentlich eine gute Nachricht, doch sie macht mich auch traurig, denn es zeigt nur in welchem Zustand das Prime Minister’s Office ist, also letztendlich die ganze innenpolitische Lage in Israel): Eigentlich müßte ich zum Misanthropen werden. Geht aber nicht. Denn ich bin schon lange einer.
Und täglich grüßt das Murmeltier
Das ist eigentlich ein Vorteil: ich erwarte gar nichts Gutes. Ob das nun eine Schutzhaltung ist oder eine Haltung, die sich mir im Laufe jahrzehntelanger journalistischer Erfahrung aufgedrängt hat, weiß ich nicht. Vielleicht ist es ja beides. Ich erinnere mich an den letzten Krieg, den ich hier noch als Korrespondent der ARD gecovert habe, den Gaza-Krieg 2014. Nach etwa 14 Tagen des 50 Tage währenden Krieges, überfiel mich tiefe Trauer und Depression. Interessanterweise ging es fast jedem meiner Kollegen so, auch israelischen Kollegen, mit denen ich befreundet bin. Der Grund war klar: nach 14 Tagen war es offensichtlich, daß dieser Krieg »zu nichts« führen wird. Daß es nur wie im Film »Und täglich grüßt das Murmeltier« war: More of the same, ohne Entwicklung, ohne Lösung, ohne eine Chance auf eine Besserung zumindest nach dem Krieg. So aber nur: sinnloses Kämpfen und Töten auf beiden Seiten. Niemand gewinnt etwas, alle verlieren.
Voraussagbare O-Töne und der neue Politsprech
Ich habe als Journalist viele Kriege und Terroranschläge gesehen und mitgemacht. Misanthropie und Zynismus werden zu Begleitern in solchen Situationen, keine Frage. Natürlich sind sie ein Schutzmechanismus, so wie für manche dann noch der Alkohol oder Drogen ein »Weg raus« sind aus dem Elend, das man ständig miterlebt. Die Lügen der Politiker, die Soundbites, die man für die Nachrichten von ihnen braucht und die man eigentlich selbst geben könnte, weil man doch so genau weiß, was sie sagen werden, ganz egal, zu welcher Seite sie gehören. Ja, das hat immer auch was »Belustigendes«, wenn man mit seinem Producer oder Cutter oder Kameramann vor einem Interview oder Statement eines Politikers darüber spricht, was gesagt werden wird – und es stimmt dann eigentlich auch immer. Die Leere solcher O-Töne, wie das im Fernsehjargon heißt. Es regt auf und macht dumpf zugleich. Man nimmt Politiker nicht mehr ernst. Die meisten zumindest. Gestern sah ich ein Interview mit Robert Habeck von den Grünen im Morgenmagazin. Und ich dachte nur: Wow! Die Verwandlung ging ja schnell. Wie erfrischend er geredet hat, ehe er Vorsitzender der Grünen wurde. Und nun schon: der professionelle Politsprech Berlins. In nur wenigen Wochen. Es geht nicht einmal um das, was gesagt wird, sondern wie. Vorbei die Zeiten, als ein Strauß, ein Wehner, ein Schmidt sich im Bundestag und anderswo fetzten und mit brillanter Sprache duellierten. Aber sie standen auch nicht unter ständiger Beobachtung einer Meute, die in den Social Media jedes scheinbar falsche Wort, daß gesagt wird, zerreisst. So wie das Fernsehen die Sprache von Politikern veränderte, so tun die sozialen Medien dies noch um vieles mehr.
Der Steigbügelhalter für die neue Rechte
Sind wir dann überrascht, daß wir nur noch Klone von Politiker haben, die alle farblos, öde, entmenschlicht wirken? Der momentane Weltmeister dieser falsch-geschliffenen-nichtssagenden Sprache ist für mich im Augenblick der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz. Der ist wirklich phänomenal in seinen Reden. Heute dies, morgen das – es spielt keine Rolle, Hauptsache es klingt gut und kommt gut rüber. Wenn er lügt, dann macht er das soviel geschickter als Trump. Auf Israel-Besuch sagte er, zum Beispiel, natürlich das Richtige: Den Kampf gegen den Antisemitismus würde man mit aller Konsequenz führen … naja, Sie kennen das alles. Und daheim: koaliert er mit der FPÖ, deren antisemitische und sonstigen rassistischen Ausfälle er nicht weiter beachtet. Wow! Aber alle finden den Kurz »charmant«, no servas … er ist ein Steigbügelhalter für die neue Rechte. Nicht mehr, nicht weniger.
Ulysses, Keith Jarrett, das Leben ist schön
Doch dann schaue ich auf die Bücher um mich herum, trinke noch einen Schluck Espresso, und sehe auf das Cover von meiner Ausgabe von James Joyce‘ »Ulysses« (ja, ich lese ihn nach Jahrzehnten endlich wieder), ich schaue auf Daniel Kehlmanns »Tyll«, den ich angefangen habe zu lesen, ich sehe auf James Kirchick’s »The End of Europe« und gleichzeitig höre ich eine LP (natürlich auf Spotify, wer hat noch LPs … oder CDs …) von Keith Jarrett und denke mir: der Mensch ist doch einfach nur großartig … Und der Freitagmorgen in Tel Aviv ist einfach wunderbar … Und der italienische Espresso auch … und eigentlich ist das Leben doch einfach nur schön …
Happy Weekend Ihnen allen.
3 Gedanken zu „Der Misanthrop oder: der Mensch ist großartig“
Ein schöner Beitrag, trotz allem… das Ambivalente aushalten zu lernen, scheint ja eine Herausforderung unserer Zeit zu sein. In Israel kann man es besonders gut üben, und in Ihrem neuen Buch – das jedes Lob verdient – natürlich auch. Shabbat shalom aus Jerusalem!
Herzliche Grüße aus dem hohen Norden, Rostock, vielen Dank für das Teilen dieser sehr persönlichen Gedanken. Ich spüre diese Zerrissenheit zwischen Ruhe und Unruhe, Zufriedenheit und Trauer, Gelassenheit und Wut jeden Tag, nie hätte ich geglaubt, dass die Welt, Europa, unsere Demokratien und Gesellschaften so unter die Räder kommen. Sich stärken und weitermachen scheint mir erstmal das richtige Rezept.
Vielleicht sollten wir ALLE mal wieder die Bibel lesen ; bzw. die Thora !
Dann wird einem klar , dass der Mensch vieles ist ; bis auf gut !