Heute Abend beginnt Pessach, das 8tägige Fest (in Israel 7 Tage), das an den Auszug aus Ägypten erinnert, an die Zeit als das jüdische Volk (die Hebräer, die Israeliten, wie man das biblische Volk auch gern nennt) aus der Sklaverei in die Freiheit gelangt. Dank Moses. Es ist einer der schönsten Familienfeiertage, die es im Judentum gibt. Der Seder-Abend (in Zeiten von Corona wird das aber heute wohl ein ziemlich virtuelles Unterfangen werden), ist eine Familienfeier, bei der nicht nur großartig gegessen wird, klar. Sondern vorher wird die Haggadah gelesen, das Buch, das von der Zeit in der ägyptischen Sklaverei erzählt und wie Moses sein Volk schließlich hinüberführte in die Sinai-Wüste auf dem Weg nach Canaan, dem Heiligen Land, nachdem der Pharaoh ihm immer wieder versprochen hatte, es gehen zu lassen, es sich dann aber immer wieder anders überlegte und Gott ihm dann jeweils eine neue Plage schickte. Zehn an der Zahl.
Ägyptische Resilienz
Nun, die armen Ägypter, muss man in diesen Zeit fast schon sagen. Wir modernen Menschen schlagen uns derzeit mit einer einzigen Plage herum und sind schon am Rande des Zusammenbruchs. Zehn Plagen hintereinander? Die Ägypter hatten da wohl schon eine ganz andere Resilienz als wir, so scheint es.
Also, der Seder-Abend. Da wird die Haggadah vorgelesen, vieles davon wird gemeinsam gesungen, das kleinste Kind der Familie stellt die berühmten „4 Fragen“: „Was ist anders in dieser Nacht als in allen anderen Nächten…“ – nun, heute Abend ist die Antwort offensichtlich, will man die Haggadah mal so ein bißchen „aktualisieren“.
Das Brot der Freiheit unter Ausgangssperre essen
Wir essen die ungesäuerten Brote, die sogenannten Mazzot, auf Jiddisch: Mazzes. Warum? Weil die Juden in Ägypten Brot backten, um es als Proviant für den Auszug vorzubereiten. Und als dann die Erlaubnis des Pharaoh kam, da ließt Moses sein Volk wissen, sie sollten sofort, unverzüglich, alles mitnehmen und losmarschieren. Und so nahmen sie das Brot, das noch nicht gegärt und „aufgegangen“ war aus den Öfen. Und los ging’s. Darum also ungesäuertes Brot. Mazzot. Es wird aber das „Brot der Freiheit“ genannt. Die Freiheit ist vielleicht karg, aber sie ist das Wichtigste.
Und ausgerechnet heute in Israel feiern wir das „Fest der Freiheit“ unter komletter Ausgangssperre. Ironie des Schicksals!
Und Ostern? Ramadan?
Denn die israelische Regierung hat bereits seit gestern ein Verbot ausgesprochen, daß man zwischen Städten und Ortschaften hin- und herfahren darf. Und ab heute Nachmittag bis morgen Früh um 7 Uhr gibt es dazu noch eine totale Ausgangssperre, niemand darf seine Wohnung mehr verlassen (das gilt übrigens nur für Juden! Arabische Ortschaften innerhalb Israels sind davon nicht betroffen). Das Fest der Freiheit also unter Ausgangssperre feiern – das ist ein echtes Novum. Der Grund für diese Entscheidung ist offensichtlich: Die Regierung hat – nicht ganz zu Unrecht – Angst, daß viele Menschen trotz aller Mahnungen, der normalen Restriktionen, die seit Wochen in Kraft sind, dennoch zu ihren Familien fahren wollen, um gemeinsam zu feiern. Und so das Virus immer weiter verbreiten.
Das Problem wird jetzt auch auf Deutschland und Europa zukommen mit Ostern. Und in einigen Wochen in den muslimischen Ländern und Communities, wenn der Ramadan beginnt. Ich bin sehr gespannt, ob in Europa noch so eine Ausgangssperre über das Osterwochenende verkündet wird. Ich glaube ja nicht. Aber es würde wohl Sinn machen, fürchte ich.
Keine Autokolonnen
Normalerweise kann man an den jüdischen Feiertagen in Israel eine wahre (Auto-)Völkerwanderung beobachten. Alle, wirklich alle, fahren hin- und her zu den Familien, es gibt endlose Staus, vor allem spätabends, wenn all von ihren Familienfesten wieder nach Hause fahren… Dieses Jahr, dieses mal, wird es zumindest an Pessach diese Autokolonnen nicht geben. Es wird noch stiller werden als es in den letzten Wochen schon ist.
Eier-Notstand
Und, ach ja, es gibt einen ersten Notstand dieser Tage. Irgendwie absurd, aber dennoch. Es gab plötzlich keine Eier mehr. Und Eier sind gerade an Pessach sehr wichtig, da man ja nichts „Gesäuertes“ essen darf, also nichts, was z.B. mit Hefe gärt etc. Die meisten Rezepte sind daher mit Mazzemehl und viel Eiern, die man braucht, um entsprechend kochen zu können. Der Eier-Notstand hat bereits dazu geführt, daß Israel gerade Millionen Eier aus Europa importiert hat. Aber sie sind noch nicht überall angekommen.
Ich selbst habe in den letzten Tagen versucht, Eier zu bekommen. Vergeblich. Eine Bekannte sagte mir, wo ich welche bekommen könnte und so fuhr ich gestern Nachmittag los zu jenem Food-Market, der angeblich welche hatte. Doch dann bin ich sofort umgekehrt. Im Lande waren Dutzende von Menschen (ohne Sicherheitsabstand) und draußen warteten mindestens 100, wenn nicht mehr Menschen, um hineinzukönnen. Nein danke, dachte ich mir. Ich brauche keine Eier. Ich fuhr weiter zu meinem Bioladen. Auch dort standen vor dem Eingang rund 50 Menschen, die geduldig warteten, bis sie hinein durften. Denn in kleinen LÄden dürfen nur noch 4 Kunden gleichzeitig sein. Nö, dauert zu lange, ist es nicht wert zu warten. Ich fuhr zu noch einem Laden: Dasselbe Bild. Also bin ich wieder heim. Keine Eier, vielleicht übermorgen oder am Sonntag. Egal…
Kriegsmodus
Aber so ein bißchen was von Ausnahmezustand hatte das plötzlich schon. Eier-Notstand. Wie in Kriegszeiten. Aber sind unsere Politiker in vielen Ländern auch in ihrer Sprache ständig im „Kriegsmodus“? Ich kann das nicht ausstehen, dieses „Wir sind im Krieg mit einem Virus“. Völliger Schwachsinn so zu reden, in solchen Bildern für den Zusammenhalt sorgen zu wollen.
Nun denn… heute Abend also das Fest der Freiheit unter Ausgangssperre. Was man so alles erlebt in diesen Zeiten…
2 Gedanken zu „Tel Aviver Gedanken in Zeiten von Corona, 14“
Danke … dieses Kriegsbild mag ich schon seit Anfang an nicht. Wenigstens schreibt es mal jemand!
Trotzallem. Hag Sameach! Mit Gruß vom Gan Hashmal!
Lieber Herr Schneider, Chag Sameach wünsche ich Ihnen auch. Ich danke für die vielen spannenden, informativen Beiträge und jetzt für die Einblicke in Ihr persönliches Leben. Für jemanden, der wie Sie vom persönlichen Austausch lebt, muss diese Situation extrem schwer sein. Ich wünsche Ihnen das Beste – und weiterhin Freude an der Musik, die uns offensichtlich verbindet. Herzliche Grüße unbekannterweise, Ihre Marianne Ludwig (Berlin)