Meine sehr persönliche Geschichte während der Olympiade 1972 in München
„Bis morgen!“, so verabschiedete ich mich von den beiden israelischen Sportlern, die ich durch München begleitet hatte. Ich war sechzehn damals und hatte diese wunderbare Gelegenheit, als „Münchner Kindl“ die israelischen Sportler zu betreuen und ihnen München und das bayerische Voralpenland zu zeigen. Doch es gab kein „morgen“.
Als ich am nächsten Tag aufstand und zu meinem Vater in die Küche ging, sah ich einen entsetzten Mann vor dem Radio. Mein Vater – ebenso wie meine Mutter – hatte mit Glück den Holocaust überlebt. Und nun saß er vor dem Radio und hörte die Nachrichten von der Geiselnahme im Olympischen Dorf. Ich hatte meinen Vater das letzte Mal so erlebt an dem Morgen, als die sowjetischen Panzer 1968 in Prag einrollten. Damals hatte er, der meine Mutter in Prag geheiratet und dort mit ihr und meiner in der Goldenen Stadt geborenen Schwester glückliche Jahre nach dem Krieg verlebt hatte, bis sie alle drei von dort fliehen mußten, weil die Kommunisten Jagd auf Juden machten, 1968 also hatte mein Vater Tränen in den Augen als er die Nachricht vom Einmarsch der sowjetischen Truppen hörte. Jetzt aber, 1972, konnte er nicht weinen. Sein Gesicht war erstarrt. Auch mich hatte blankes Entsetzen ergriffen. Ich kannte sie alle, die nun Geiseln waren, zwei waren schon tot. Würden die anderen überleben? Was würde geschehen?
Der Oberrabbiner von München hatte die Gemeindemitglieder aufgerufen, möglichst zahlreich zum Mincha-Maariw-Gebet in die Synagoge in die Reichenbachstraße zu kommen, die einzige Synagoge Münchens, die die sogenannte „Reichskristallnacht“ überstanden hatte und die nun die Hauptsynagoge der jüdischen Gemeinde war, die nach 1945 überwiegend aus osteuropäischen Holocaust-Überlebenden bestand.
Mein Vater nahm mich zum Gebet mit. Die Synagoge war überfüllt. Alle waren dem Aufruf gefolgt. Rabbiner Grünewald hielt eine Ansprache, bat Gott um Hilfe die israelischen Sportler zu befreien, wir müssten an die Macht Gottes glauben – so in diesem Sinn redete Rabbi Grünewald mehrere Minuten.
Dann folgte das Mincha-Gebet und wir sprachen still und leise die Schmone-Esre, das Gebet, das man im Stehen betet und währenddessen es strikt untersagt ist zu sprechen. Mein Vater stammte aus einer chassidischen Familie, war vor dem Krieg jahrelang in eine Jeschiwe gegangen und wußte das natürlich. Er stand neben mir und hielt meine Hand während wir beide beteten. Doch mit einem Mal geschah etwas Unerwartetes, etwas Unerhörtes: Mein Vater brach das Gebet ab und begann lauthals zu schreien: was das denn solle, diese unnütze Beterei. Was wir damit wohl zu erreichen glauben? Das kenne er schon alles, ein Déjà-vu. Er stünde jetzt hier mit seinem Sohn, genauso wie sein Vater mit ihm als jungen Jeschiwe-Bucher in der Karpatho-Ukraine in der Schul gestanden war und sie hätten damals gebetet, daß Adolf Hitler nicht käme und sie hole. Und was sei geschehen? Sie wurden geholt und seine Familie wurde in Auschwitz vergast. Diese ganze Beterei sei nur Hilflosigkeit. Wir sollten uns endlich wehren und nicht beten. Wie die Israelis. Es sei genug mit der Beterei. Wir sollten jetzt eine Demonstration machen – sprach’s und schickte mich vor zur Polizei, die vor der Synagoge Wache hielt. Ich solle denen sagen, daß die Juden Münchens einen Marsch durch die Stadt planen, einen Solidaritätsmarsch für die israelischen Geiseln. Und ich solle mich ja nicht mit einem „Nein“ abspeisen lassen, ermahnte mich mein Vater.
Ich lief aufgeregt und begeistert vor zur Polizei. Ich war völlig erschlagen von der emotionalen Wucht meines Vaters und zugleich begeistert und beeindruckt und wahnsinnig stolz auf ihn. Ich ging zu den Münchner Polizisten, sagte ihnen, was wir vorhätten und daß wir ein „Nein“ nicht akzeptieren würden. Die beiden Polizisten waren völlig verdutzt, sprachen mit der Zentrale. Ich sagte noch, wir würden auch demonstrieren, selbst wenn die Polizei dies nicht genehmige und lief zurück in die Synagoge.
Der Rabbiner, der Präsident und der Vorstand der Gemeinde hatten sich inzwischen zu „Beratungen“ zurückgezogen. Sie hatten bedenken, sich als Juden so in der deutschen Öffentlichkeit exponieren. 1972 war immer noch die Zeit als Juden in Deutschland eher nicht auffallen wollten. Man hatte immer noch Angst, tief saß das alte Verhalten, als Jude besser zu kuschen, je weniger man in Erscheinung trat, umso besser. Das große Coming-Out der Juden in Deutschland fand tatsächlich erst 1985 statt, als die Frankfurter Jüdische Gemeinde mit ihrem Präsidenten Ignatz Bubis die Bühne des Frankfurter Schauspiels besetzte, um die Premiere des antisemitischen Stückes von Rainer Werner Fassbinder „Der Müll, die Stadt und der Tod“ zu verhindern. Die gesamte Bundesrepublik diskutierte damals diese „Bühnenbesetzung“, die Medien und die deutsche Gesellschaft teilten sich rasch in Befürworter und Gegner, Ignatz Bubis war in jeder Talkshow zu sehen. Mit einem Schlag waren Juden Teil der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit geworden. Präsent, laut, mit einer eigenen Meinung, vor allem aber: ohne Furcht.
1972 in München waren wir Juden noch nicht soweit. Aber mein Vater. Und der schickte mich nun hoch in die Büroräume der Gemeinde, um eine israelische Fahne zu besorgen, mit der wir durch die einstige „Hauptstadt der Bewegung“ gehen wollten. Ich fand sie in einem Zimmer, in dem die hohen Herren des Vorstands mit sorgenvoller Miene debattierten, daß das, was mein Vater vorhabe, Unglück über die Juden bringen werde. Ich lief mit der Fahne triumphierend an den Bedenkenträgern vorbei, zurück zu meinem Vater und den anderen Jugendlichen, die natürlich alle für die Demo waren. Auch einige Ältere hatten sich angeschlossen und so gingen wir auf die Straßen, entrollten die israelische Fahne und marschierten los. Die Polizei hatte Grünes Licht gegeben und gab uns Begleitschutz.
Inzwischen waren Journalisten und Fotografen aufgetaucht, die diese „Premiere“, eine „jüdische Demo“ für das deutsche Publikum festhalten wollten. Aus dem Sitzungszimmer im vierten Stock des Gemeindezentrums blickten Präsident Hans Lamm und die anderen zu uns auf die Straße herunter. Als sie sahen, daß wir losmarschierten, verschwanden die Köpfe. Und wenige Augenblicke später hatten sie sich an die Spitze unserer Demo begeben, sie wollten wenigstens mit dabei sein, so tun, als ob das ihre Idee gewesen sei. Nun, man konnte es ihnen nicht verdenken. Es war neu so „aggressiv“ und „sichtbar“ in Deutschland zu agieren.
Wir liefen bis zum Odeonsplatz, wo einst Adolf Hitler seinen „Putsch“ versuchte. Dort hielt dann Präsident Hans Lamm eine Ansprache. Die Demo fand ein Ende, wir gingen heim. Ich war glücklich und voller Bewunderung für meinen Vater, der mir damals zeigte, daß man sich als Jude nicht verstecken dürfe. Wir konnten die Sportler nicht retten, wir hatten nicht einmal Einfluß auf IOC Präsident Avery Brundage mit seiner unsäglichen Entscheidung, daß die Spiele weitergehen müßten. Aber wir hatten zumindest gezeigt, daß wir nicht mehr wie „Lämmer zur Schlachtbank“ geführt werden könnten. Daß wir Gesicht zeigen. Immerhin.