Gestern Abend traf ich nach 15 Jahren einen sehr lieben Bekannten wieder. Er wurde in der DDR geboren, war ein bekannter Musiker dort. Wir hatten uns kennengelernt, als ich meine 4 x 45 Minuten Dokumentation »Trotzdem Deutsch! Juden in der deutschen Nachkriegskultur« für den Bayerischen Rundfunk drehte, die 2005 erstausgestrahlt wurde.
Terra incognita: Die Juden in der DDR
Bereits in meiner 4 x 45 Minuten Dokumentation »Wir sind da! Juden in Deutschland nach 1945« (Erstausstrahlung 2000) habe ich eine ganze Folge den Juden in der DDR gewidmet. Die Geschichte dieser Juden war für mich terra incognita. Sie war so anders als die Geschichte von uns Juden in der BRD. Wir waren überwiegend Kinder von osteuropäischen Holocaust-Überlebenden, die Juden in der DDR waren Kinder von Kommunisten, nicht alle, aber doch viele. Sie waren aber alle deutsche Juden, deren Eltern mit ihnen oder noch vor ihrer Geburt nach 1945 zurück in die »Heimat« gekommen waren, um ein besseres, sozialistisches Deutschland aufzubauen.
Ich war fasziniert, wie die Eltern ihr Judesein mehr oder weniger versteckten, wie das kein Thema war, weil man ja »Kommunist« war oder – weil man es der deutschen »sozialistischen« Umwelt nicht verraten wollte, daß man jüdisch ist. Da hatte man schon auch in der DDR so seine Bedenken.
Und mich faszinierte es, wie viele dieser Juden der Zweiten Generation in der DDR oftmals gar nicht wußten, daß sie Juden waren, aber trotzdem alle miteinander verbunden waren, weil ihre Eltern dann häufig in England im Exil waren und sozusagen »gemeinsam« zurückkamen. Oder weil die Eltern dann doch lieber mit Juden privat verkehrten, weil man sich da »sicherer« fühlte, selbst wenn die DDR doch immer so tat, als habe sie mit den Nazis nichts zu tun gehabt und selbst wenn Juden in der DDR mehr oder weniger sicher waren.
Eine andere jüdische Biographie als die meine
Es war auch faszinierend zu erleben, wie DDR-Juden der Zweiten und Dritten Generation mit ihren Eltern oder Großeltern in die Auseinandersetzung traten, weil diese sogar in der Politik waren, in der Partei, vielleicht sogar als Minister Verantwortung hatten, was in der DDR geschah. Wie sie ihr Judentum »suchten«, sich dann als Erwachsene in den 80er Jahren als Mitglieder in der jüdischen Gemeinde von Ostberlin einschreiben lassen wollten und einige von ihnen dann ihr blaues Wunder erlebten, weil sie feststellten, daß sie schon seit ihrer Geburt Mitglieder waren: Die Eltern, überzeugte Kommunisten, hatten sich bei ihrer Rückkehr aus dem englischen oder sowjetischen Exil oder aus den KZ der Nazis, dann doch gerne als erstes in der jüdischen Gemeinde einschreiben lassen, ohne daß man dann diese später je besucht hätte.
Kurzum, ich war fasziniert damals bei den Dreharbeiten, ich interviewte diese Menschen, die im anderen Deutschland lebten und eine komplett andere jüdische Biographie hatten als ich und all meine Freunde in West-Deutschland. Ich las Bücher, die damals über die DDR-Juden erschienen und mit einigen von ihnen freundete ich mich an.
Ein deutsch-deutsch-jüdisches Gespräch in einer schwülen Tel Aviver Sommernacht
So auch mit diesem wunderbaren Menschen und Künstler und Musiker, den ich aber nur ein-, zweimal traf und jetzt, über gemeinsame Bekannte, wiedersehen konnte nach all den Jahren. Und so saßen wir in der heißschwülen Sommernacht Tel Avivs in einem Straßenlokal draußen und redeten über uns, unsere Biographien, die Brüche in unserem Leben, all diese Fragen der Identität, die so eng mit Deutschland und seiner Geschichte zusammenhängen und die im Nahen Osten irgendwie bizarr wirken, so »falsch am Platz«, weil eben weit weg, in einer anderen Welt, buchstäblich. Um uns herum liefen junge Israelinnen und Israelis, schöne Menschen, die Donnerstagabend ausgehen, weil sie Freitag frei haben. Helle und Dunkle, Blonde und Schwarze, das bunte Gemisch Israels, während zwei jüdische Männer aus Deutschland über Stasi und Nazis, über Kommunismus und Demokratie, über SED und CDU, über Antisemitismus und Vergangenheitsproblematik redeten. Und über das Deutschland von heute. Zwei Männer, die jahrzehntelang durch »die Mauer« getrennt waren, und sich hier in Tel Aviv in der gemeinsamen Muttersprache unterhielten, zwei Männer, die sich am gleichen, aber nicht demselben Land jahrzehntelang abarbeiteten und es auch heute noch tun, der eine in Deutschland, der andere inzwischen aus der Distanz. Zwei Männer, wie aus der Zeit gefallen.
Gewonnene Abgeklärtheit. Andere Realitäten
Es war ein schöner Abend. Als ich nach Hause ging, hatte ich ein »heimeliges« Gefühl. Solche Gespräche kann ich mit meinen israelischen und palästinensischen Freunden natürlich nicht führen. Aber auch nicht mit meinen deutschen, nichtjüdischen Freunden in Tel Aviv. Es war ein sehr innerjüdisch-deutsch-deutsches Gespräch. Als ich heute morgen aufstand, klang das Gespräch in mir immer noch nach. Und gleichzeitig freute ich mich, daß ich solche Gespräche in Israel nicht allzuoft führen kann. Ich habe mich jahrzehntelang in meiner Arbeit als Autor, als Filmemacher mit diesem Thema »Juden in Deutschland« beschäftigt, gequält, habe mich darin verbissen, habe an ein besseres Deutschland geglaubt, an eine Chance für Juden da, bin enttäuscht worden, habe irgendwann eine gewisse, innere Distanz gewonnen, die es angenehm machte, in Deutschland zu leben, ohne sich allzuviel Illusionen zu machen, daß man das »Unnormale« eines deutsch-jüdischen Lebens jemals »normal« machen könnte, das man eines Tages wirklich »dazugehören« könnte. Und habe irgendwann ein Stück »Abgeklärtheit« gegenüber dieser problematischen deutsch-jüdischen Existenz gewonnen.
Und so beschäftige ich mich heute in der schwülen Hitze von Tel Aviv mit den Dingen, die ich erledigen muß, der Arbeit, die auf mich wartet. Und dabei werde ich ständig Nachrichten hören, Nachrichten darüber, was an der Grenze zu Gaza heute bei neuen palästinensischen Freitagsdemonstrationen geschehen wird. Eine Realität, weit, weit weg von Deutschland.
Richard C. Schneider, Tel Aviv