In irgendeiner deutschen Zeitung schrieb jemand, die Ereignisse in Chemnitz erinnern an Weimarer Verhältnisse. Zwei Aspekte sind mir – wie wohl jedem – dabei besonders aufgefallen: Daß der Staat, selbst nach dem ersten Tag, nicht in der Lage war, die Stadt vor den Übegriffen der Rechten zu schützen. Daß die Polizei erneut die Lage „falsch eingeschätzt“ hat, was nur ein Euphemismus für unglaubliche Dummheit ist. Der zweite Aspekt: daß – nach Medienberichten – viele Menschen „der Mitte“ sich mit den Nazis und Rechtspopulisten gemein machten, weil sie das „Ausländerproblem“ gelöst wissen wollen und sich vom Staat im Stich gelassen fühlen.
Es geht nicht um „Weimarer Verhältnisse“
Weimarer Verhältnisse also? Viele werden das natürlich nicht so sehen wollen, vor allem nicht die verantwortlichen Politiker in Berlin (übrigens, hat Innenminister Seehofer inzwischen was zu Chemnitz gesagt?). Die Frage aber ist meines Erachtens nicht, ob das bereits Weimarer Verhältnisse sind oder nicht. Denn damit zielt man am eigentlichen Problem vorbei.
Wann kippt eine Gesellschaft?
In der Geschichte des Nationalsozialismus hat mich eine Frage besonders umgetrieben: Wie ist es möglich, daß eine Gesellschaft, die sich als kultiviertes Volk verstand, kippen konnte? Wo sind die „Points of no return“ auf dem Weg zur Machtergreifung 1933, die man hätte erkennen können und müssen? Und damit ja nicht genug: Von 1933 bis zur „Endlösung der Judenfrage“ war es auch ein weiter Weg, wenngleich dieser ideologisch vorgegeben war. Allein die Tatsache, daß die Nazis im Juni 1938 die Münchner Hauptsynagoge abrissen, um zu „testen“, wie die Bevölkerung darauf reagieren würde (es war ihr egal), zeigt, daß man meinte, selbst die „Reichskristallnacht“ nicht so ohne weiteres durchziehen zu können.
Die Bedrohungen für jede Demokratie sind wesensverwandt
Was Chemnitz im Augenblick zeigt, was in anderen europäischen Demokratien vor sich geht, was auch in Israel mit neuen Gesetzen geschieht, wie die Lega mit Flüchtlingen umgeht, ist im Wesen ähnlich. Nein, ich setze die Nazis in Chemnitz oder die AfD nicht mit der Lega in Rom oder dem Likud in Jerusalem oder anderen Parteien in Europa gleich. Das wäre zu vereinfachend und würde im Kern auch nicht stimmen. Die Voraussetzungen jeder dieser Parteien sind abhängig von den politischen Gegebenheiten, in denen sie existieren. Aber die Bedrohungen für jede Demokratie sind wesensverwandt, wir sehen das in den Nachrichten, und ich beschäftige mich mit diesem Thema immer mehr neben meinem „Hauptfeld“ Israel und Nahost.
Was geht’s mich an, wenn in Peking ein Fahrrad umfällt?
Ich habe vor einigen Wochen hier ein paar Buchtipps zu diesem Thema gegeben und nicht nur die Lektüre dieser Bücher, aber auch die eingehende Auseinandersetzung mit den aktuellen, täglichen Entwicklungen, beunruhigen mich mehr und mehr. Gestern telefonierte ich mit einer Freundin in Europa – nicht in Deutschland -, die nur lapidar meinte, ihr sei das egal, was in Chemnitz geschähe, sollen sich die Deutschen doch gegenseitig die Köpfe einschlagen. Das ließ mich unmittelbar an den Spruch meiner Kindheit denken: „Was geht’s mich an, wenn in Peking ein Fahrrad umfällt?“ – das mag in den 50er und 60er Jahren noch gestimmt haben (nicht wirklich…), heute gilt das schon lange nicht mehr. Und wir alle wissen das. Die Reaktion auf die Globalisierung ist die Regionalisierung, das Ausklammern der Geschehnisse woanders, weil man sich überfordert fühlt, aber nichtsdestotrotz beeinflußt das unser Leben, ob wir wollen oder nicht.
Points of No Return
Wo sind heute die Points of No Return? Wenn wir genau hinschauen, dann müssen wir zugeben, daß wir einige Chancen, die Demokratie zu erhalten, bereits verpaßt haben. Dafür sind wir alle verantwortlich. Der nächste wichtige Meilenstein für Europa wird mit Sicherheit die Europawahl im Mai 2019 sein. Steve Bannon, der einstige „Rasputin“ von Donald Trump, will die europäische Rechte vereinen, um ein Drittel der Abgeordneten im EU-Parlament in Brüssel zu stellen. Ob ihm das gelingt, mag man im Augenblick anzweifeln, da die europäische Rechte ziemlich zerstritten ist und sich von einem Amerikaner wohl nichts sagen lassen will – doch wenn er mit guten Konzepten kommt, mit viel Geld zumal, dann muß man erst mal sehen, was dann eventuell doch plötzlich möglich sein könnte.
Europa-Wahl 2019
Ich weiß, daß viele Europäer die Wahlen für Brüssel nicht wirklich ernst nehmen und häufig nicht teilnehmen. Das ist ein Fehler. Wer, z.B., 2019 nicht zur Europa-Wahl geht, darf sich nicht wundern, wenn es dann ein Ergebnis gibt, das ihm/ihr nicht gefällt. Im Mai nächsten Jahres also wählen zu gehen, wäre zumindest ein kleiner Anfang.
Es gibt viel zu tun.
Ein Gedanke zu „Chemnitz, Weimar, Rom, Jerusalem“
Dieser Artikel ist so gut, dass ich mir wünschen würde Richard Schneider hätte ihn auf Englisch geschrieben, damit ihn alle Europäer und andere lesen könnten. Vielleicht ist das nachzuholen.