Berivan Aymaz, die für die Grünen im NRW Landtag sitzt, tweetete zu Chemnitz etwas sehr Prägnantes. Sie schrieb: “ ‚Wehret den Anfängen‘ war gestern, heute tobt der faschistische Mob schon auf unseren Straßen“
Wie recht sie doch hat. Ich erinnere mich an all das „Wehret den Anfängen“ – Geblabbere, das so in etwa 1988 begonnen hatte, als man in der alten Bundesrepublik den 50. Jahrestag der „Reichskristallnacht“ mit zahlreichen Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen etc. beging. Da begannen die Politiker aller Parteien genau das zu sagen. Jahrelang. Jahrzehntelang. Es kamen Rostock, Mölln, Solingen, Hoyerswerda und und und…. Und immer wieder hieß es „Wehret den Anfängen“, obwohl wir doch schon mitten drin waren. Aber das wollte niemand so wirklich wahrhaben.
Auch jetzt nicht. Sascha Lobo hat dies in einem brillanten Beitrag
ziemlich genau aufgedröselt. Er schreibt in seiner Kolumne auch sehr richtig, daß wenn man Adolf Hitler jetzt mal schnell ins Jahr 2018 beamen könnte, es dann über ihn heißen würde: „der als rechtsnational geltende A.Hitler“ – und eben nicht: Der NAZI.
Es hat schon was, wie in Deutschland immer und immer wieder um den heißen Brei herumgeredet wird. Und das nun seit Jahrzehnten. Es ist genau diese ewige Beschwichtigungstaktik der jeweils verantwortlichen Politiker und der offiziellen Organe, die es einfach unmöglich machen, sich in Deutschland existentiell sicher zu fühlen. Zu wissen, daß der Staat wirklich alles, ich meine: a l l e s tut, um Minderheiten zu schützen, um Fremde zu schützen, um anders Aussehende zu schützen. Nicht nur in München oder in Frankfurt oder Hamburg, sondern eben auch in Chemnitz und Jena, in Erfurt und Ostberlin, in Leipzig und Dresden. Daß der Staat all diejenigen aus den Staatsdienst wirft, die mit Nazis sympathisieren. In der Polizei, in der Verwaltung, in der Politik. Das geht nicht immer so einfach, aber es ist dann doch eben so, daß häufig entsprechende Äußerungen von solchen „Amtsträgern“ lediglich als „Ausrutscher“ gewertet werden.
Deutschland hat ein Verleugnungsproblem. Damit steht Deutschland nicht allein da. Überall dort, wo wirklich üble Mißstände existieren, wird verleugnet, verdrängt, gelogen. In jedem Land. Deutschland hat aber aufgrund seiner Geschichte diesbezüglich auch nochmal eine ganz andere Verantwortung. Und sollte wissen, wie Verdrängung funktioniert und was sie bewirkt. Eben: bis heute.
Wie das war in jenen Jahren, in denen ich groß wurde, wurde einem vor kurzem brillant in der ARD vorgeführt, in dem Dokumentarfilm „Kulenkampffs Schuhe“:
Von da – von den Lügen der einstigen SS-Mitglieder Martin Jente oder Horst Tappert, der „Überempfindlichkeit“, die man einem Hans Rosenthal vorwarf, zu den heutigen Ereignissen (da kommt ja der ganze DDR-IM-Stasi-Neonazi-Verdrängungswahnsinn noch dazu), ist es im Grunde ein klarer, direkter Weg. Die Vergangenheit ist in Deutschland noch längst nicht vergangen, wie so viele das glauben machen wollen.
Daß die Kanzlerin ausgerechnet jetzt auf Reisen gegangen ist, finde ich deprimierend. Sicher, solche Staatsreisen werden lange vorher vorbereitet und sie abzusagen ist nicht immer einfach. Aber ich lebe in Israel in einem Land, in dem der Premierminister schon öfters aufgrund der Sicherheitslage im letzten Moment eine Reise absagen mußte. Ich finde, die Sicherheitslage in Chemnitz, in Deutschland, hätte es wünschenswert gemacht, wenn die Kanzlerin geblieben wäre. Wenn sie – Horst Seehofer wird dies ja wohl kaum tun – nach Chemnitz gefahren wäre und sich hingestellt hätte, dort, vor Ort, und Tachles geredet hätte. Nicht nur in Berlin, was sie selbstverständlich gemacht hat. Mich erinnert das an Helmut Kohl, der auch nicht nach Mölln oder sonstwohin gefahren ist, um mal klare Kante zu zeigen.
Es wäre damals nötig gewesen, es wäre jetzt wieder nötig. Und wie! Denn wie gesagt: Das „Wehret den Anfängen“ – das war gestern
4 Gedanken zu „Chemnitz – Deutschland ist mittendrin“
Hass vergiftet unsere Herzen. Auch der Hass auf die Hassenden. Hass zerstört. Hass heilt nicht. Ich verurteile die Hassenden, ihren Hass, aber ich hasse sie nicht. Mit meinem persönlichen Urteil suche ich Distanz. Ich unterscheide ‘richtig’ und ‘falsch’ ; ‘gut’ und ‘böse’ etc. und ziehe Konsequenzen daraus. Ich hasse nicht zurück. Weder beantworte ich Hass mit Gegenhass, noch nehme ich Hass einseitig war, übersehe geflissentlich negative Emotionen, die meiner eigenen Gefühlslage nahe sind. Ich will alles sehen, das gesamte Bild. (Zumindest strebe ich danach…)
Und so verurteile ich…
– Nichtjüdische Europäer, die Juden hassen
– Juden, die Araber hassen
– Asylsuchende, die Juden hassen
– Juden, die Kinder von Opfern sind und die Kinder der Täter hassen (Erinnerung braucht keinen Hass.)
– Religiöse Juden, die freie Juden hassen
– Menschen, die mich hassen
– Muslime, die andere Muslime hassen
– Palästinenser, die Juden hassen
– Migranten, die an dem Hass, der sie zur Flucht getrieben hat, festhalten
– usw.
Elie Wiesel erklärt so treffend, dass der Hass nicht das Gegenteil von Liebe sei, sondern Hass bedeutet Gleichgültigkeit, Kälte, Wegsehen. Ich verurteile das Wegsehen und bemühe mich, immer hinzusehen.
Dennoch kann ich gut verstehen, dass Richard C. Schneider diesen Post fast schon in euphorischer Stimmung geschrieben hat. Ich kann es sogar sehr gut verstehen. Er hat den Antisemitismus, der von rechts kommt, bereits als Kind erfahren, ist in einem nicht wirklich entnazifizierten Deutschland aufgewachsen. Was andere unter den Teppich gekehrt haben, hat er sehr bewusst erlebt, und nun muss endlich, endlich Schluss sein mit der Verdrängung, und eine offene Auseinandersetzung mit dem Problem muss stattfinden. So finden einige in diesen Ereignissen auch die Bestätigung dessen, was sie schon immer gesagt haben – und eine Art Frieden.
Und doch spricht die Fixierung besonders auf den Hass von rechts Bände. Ja, auch der Antisemitismus von links (s. Corbyn) stösst auf grosse Empörung. Von rechts kommend, von links – es ist dies alles der alte Antisemitismus, der zu Europa gehört und der nie verschwunden ist. Tja, und was den Antisemitismus betrifft, den Asylsuchende ins Land bringen, da drückt Schneider schon auch einmal ein Auge zu. Verständlich, denn die Rechten nehmen sich ja bereits dieses Problems an – so sehr, dass er sich eher Seit‘ and Seite mit Asylsuchenden auf der anderen Seite dieser Rechten stehen sieht. Deren Antisemitismus soll hier nicht interessieren. Zuerst sind sie Opfer rechtsextremer Gewalt. Stimmt das so, oder zeichnet Schneider hier ein emotional gefärbtes Zerrbild ? –
Das ist schade, weil die Realität zum einen nicht so abgebildet wird wie sie ist und zum anderen, weil es Ausdruck ist von den negativen Gefühlen, die Schneider leider leider selbst noch immer in sich trägt und von denen es so schön wäre, wenn sie verschwinden würden, weggehen könnten, da der so empfindende Mensch einzig selbst den Schaden davon hat und keinen Gewinn.
Lieber Herr Schneider,
ganz genau so ist es! Die Hutbürger brüllen sich ihre Wut der Verlorenen in die brüllenden Landschaften und jagen alles, was (vermeintlich) anders ist als sie selbst. Es ist absolut erschreckend. Und doch gibt mir mein multikulturelles und multisexuelles Umfeld mir Halt und Trost zugleich. Doch dabei darf es nicht bleiben. Ich sehe jede Menge „neuartiger“ egozentrischer Aggression um mich herum und ich frage mich jederzeit: Wann kippt das? Wann ist sich jeder nur selbst der nächste? Getreu dem Motto: „Na wenn jeder an sich selbst denkt, ist ja an jeden gedacht!“ Dies ist nur eine sprachgewordene Wurzel einer grunds. Entsolidarisierung. Es gibt zahlreiche weitere Ausprägungen. Das „Ich“ scheint bestimmend geworden zu sein gegenüber dem „Wir“. Dies unterscheidet dieses Jahrzehnt fundamental von einigen vorherigen. Das Nachdenken über und der Einsatz für eine pluralistische Gesellschaft wird genau dadurch auch in Mitleidenschaft gezogen… Es wird allerhöchste Zeit umzusteuern, und zwar auf allen Kanälen (die sog. „Sozialen Netzwerke“ haben sich – anders als marketingtechnisch erwartet – mitnichten als Hort eines vorbildlichen sozialen Miteinanders entwickelt… Schade eigentlich!)
Bechatzlacha!
Dann lesen Sie einmal was die Jüdische Gemeinde Chemnitz schreibt. Dort hat man keine Angst vor den Rechten, eher vor denen, die seit 2015 ins Land kommen.
Ich würde dem den Artikel von Jan Fleischhauer, auch von der Spiegel Kolumne entgegenhalten:
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/pressefreiheit-die-empoerung-der-presse-ist-uebertrieben-kolumne-fleischhauer-a-1225695.html