Sie haben sicherlich den Skandal um die antisemitische Karikatur in der SZ in diesen Tagen mitbekommen? Die Zeitung hat sich entschuldigt, hat sich vom Karikaturisten getrennt. Und damit hat es sich. Für die SZ zumindest.
Nun wieder so ein Fall in einer anderen wichtigen deutschsprachigen Zeitung. In der NZZ steht in einem Artikel über Gaza:
»Die knapp zwei Millionen Gaza-Bewohner seien fast vollständig von ausländischer Hilfe abhängig, die Arbeitslosigkeit sei erdrückend. ›Die Situation ist desolat, es gibt nicht einmal mehr Trinkwasser, weil man alle Brunnen vergiftet hat.‹ « (Kursivsetzung von mir)
Da ist sie wieder, die mittelalterliche Mär‘ von der »Brunnenvergiftung«. Durch wen? Durch Juden natürlich. Das steht da einfach so, unwidersprochen. Und erst auf massiven Protest hin, wird dieser Satz gestrichen. Die Redaktion entschuldigt sich. Auf Twitter schreibt die NZZ: »Das Zitat hätte kritisch eingebettet sein müssen – und wir bitten um Entschuldigung.«
»Brunnen-Vergiftung« durch Juden im Mittelalter. Undatierter Holzstich aus dem 19. Jahrhundert. Paris, Bibliothèque Nationale.
Antisemitismus? Oh, sorry.
Das war’s also mal wieder. Antisemitismus? Oh, sorry, war nicht so gemeint.
Diese Beispiele bestätigen, worauf ich erst neulich bei einer Tagung in Florenz zum Thema Antisemitismus, der von der Antisemitismus-Beauftragten der EU, Frau Katharina von Schnurbein, organisiert war, mehrfach hinwies (und natürlich auch andere Teilnehmer): Daß der Antisemitismus in der »Mitte der Gesellschaft« wieder da ist und man ihn mindestens so ernst nehmen muß wie den Antisemitismus an den Rändern der Gesellschaft. Wobei das »wieder« nicht ganz richtig ist. Er war ja nie weg. Man traute sich nur nicht, ihn im Schatten von Auschwitz zu äußern. Dieser Schatten von Auschwitz ist kleiner geworden, die Historisierung des Holocaust schreitet voran, da kann man sich wieder hervorwagen mit den uralten Vorurteilen, den uralten europäischen (nicht nur deutschen) Vorurteilen, vor allem, wenn man zu den Nachkriegsgenerationen gehört.
Neue »Entschuldigungsmuster«
Was zu diesem alten/neuen Antisemitismus gehört ist ein neues »Entschuldigungsmuster«: Die Person hat etwas Antisemitisches gesagt, getan – was auch immer – aber natürlich ist die Person kein Antisemit. Das kennen wir spätestens seit Möllemann. Wenn man dieses Entschuldigungsmuster ernst nehmen will – ich habe damit so meine Mühe, aber ich versuch’s mal – dann würde das bedeuten, daß diese Personen sich der antisemitischen Klischees nicht bewußt sind, die sie benutzen. Was folgt daraus? Mehr Aufklärung? In den Schulen, sonstwo? Vielleicht. Wobei ich meine Zweifel habe, daß das wirklich helfen würde.
»Sie sprechen ja wirklich sehr gutes Deutsch!«
Ich erinnere mich an eine ziemlich absurde Geschichte, die das ganze Ausmaß der Problematik des Antisemitismus in der »Mitte der Gesellschaft« wunderbar beschreibt. Ich erzähle sie gerne immer wieder, weil sie für mich prägend war. Ich hatte 1994 gerade mein erstes Buch geschrieben: »Zwischenwelten. Ein jüdisches Leben im heutigen Deutschland«. Mein inzwischen leider schon verstorbener Verleger Karl Blessing lud mich zur Vertreterkonferenz ein, um mein Buch persönlich vorzustellen. Ich sprach eine Stunde. Erzählte, wie ich in Deutschland aufgewachsen war, ein deutsches humanistisches Gymnasium besucht, ein Germanistik-Studium abgeschlossen hatte. Wie ich an deutschen Theatern als Regieassistent und Regisseur gearbeitet hatte, um schließlich als Journalist in deutschen Medien und dann bei der ARD zu arbeiten. Und wie ich Antisemitismus erlebt hatte, immer und immer wieder.
Nach meiner Buchvorstellung kam es zum gemeinsamen Mittagessen, an Zehnerstischen. Ich saß neben Karl Blessing, um uns herum einige der Vertreter. Nach der Vorspeise sprach mich der Vertreter der Region Hamburg/Schleswig-Holstein an, der mir gegenübersaß.
»Also, Herr Schneider, das war ja alles total beeindruckend und spannend. Richtig toll. Und sie sprechen ja wirklich sehr gutes Deutsch!«
Darauf ich: »Sie auch!«
Vertreter: »Ja … (er lachte), ich bin ja auch Deutscher!«
Ich:»Ich auch!«
Er: »Ja … aber …«
Allmählich merkte er, daß er sich verrannte, am Tisch erstarrten alle.
Ich: »Haben Sie mir eigentlich zugehört? In Deutschland geboren, aufgewachsen, in Deutschland zur Schule, zur Uni gegangen … was haben Sie eigentlich erwartet? Daß ich, weil ich Jude bin… (und da wechselte ich ins Jiddische über), daß ich nur Jiddisch kann und mit den Händen rede oder was?!«
Klischees und Vorurteile
Alle am Tisch waren entsetzt, der Vertrter aus dem hohen Norden wurde bleich und rot und wußte nicht mehr, wohin er schauen sollte. Woraufhin ich den Menschen am Tisch erklärte, daß sie in diesen wenigen Sekunden den ganzen Inhalt meines 300 Seiten langen Buches »erzählt« bekommen haben. Wie das Klischee »des Juden« sich immer wieder vor die Realität schiebt, wie man als Jude ständig mit Vorurteilen konfrontiert wird.
Und »die Moral von der Geschicht’«? Der Antisemitismus ist wesentlich präsenter und problematischer als die „Mitte der Gesellschaft“ es je zugeben will oder kann. Die »Mitte der Gesellschaft« wird zwar – derzeitig – keine Gewalt gegen Juden anwenden, aber sie hat ein mindestens ebenso großes Problem wie die »Ränder der Gesellschaft«. Daß dem so ist, können Juden bestätigen, egal, wo sie leben. Aber auch andere Minderheiten. Denen geht es wahrlich nicht besser.
Und nun warten wir halt auf den nächsten antisemitischen »Ausrutscher«. In den Medien, in der Politik, in der Kultur. Und dann wird es wieder heißen: Sorry, war nicht so gemeint …
Richard C. Schneider, Tel Aviv
7 Gedanken zu „Antisemitismus? Oh, sorry!“
Schöner Beitrag, danke. Zur Vervollständigung sollte man vielleicht noch anführen, dass auch – manche sagen sogar: vor allem – in den Öffentlich-Rechtlichen Sendern einem Antisemitismus gefrönt wird, dass einem die Ohren schlackern. Warum gibt es bei denen, die sich zu den Aufgeklärten und vor allem: den Lordsiegelbewahrern des „Aus der Geschichte gelernt habenden“ zählen, diese auffällige Form des unbewwusst bleibenden Antisemitismus? Und wie gehen Sie, Herr Schröder, damit um?
Der Antisemitismus in den deutschen Medien ist nicht „wieder da“ – das greift zu kurz. Er ist strukturell! https://tapferimnirgendwo.com/2018/05/19/ein-bauernopfer/#comment-150158
Die Zuschreibung als Antisemit lässt Umkehr, lässt das Lernen von Toleranz nicht recht zu. Warum muss es Subjekt und warum kann es nicht eine subjektive Handlung sein? Norbert Blüms Beitrag zur Maischberger-Diskussion „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf die Juden in Europa“ war antisemitisch, aber ist es der ganze Mann? http://generatoren-der-irrelevanz.de/antisemitismus
Das ist eine wirklich interessante Frage, die Sie da stellen (ja, ich bin ironisch). Sie sagen: Norbert Blüms Beitrag war antisemitisch, aber ist es der ganze Mann? Welchen Teil von ihm würden Sie denn als „antisemitisch“ dann zuordnen? Den linken Arm oder den rechten? Das linke Auge? Die linke Gehirnhälfte oder jeweils die rechte? Ich will mich nicht über Sie lustig machen, sondern das ist genau dieses Phänomen, von dem ich spreche: Diese „Pseudo-Abtrennung“ von einer antisemitischen Tat oder Äußerung von der Person, die nicht antisemitisch sein soll?! Das ist ein netter Versuch, Verantwortung abzuschütteln. Und das ist eine neue Qualität im antisemitischen Diskurs…
Sorry Herr Schneider, aber ich verstehe die Schlußfolgerung nicht ganz. Was hat „Sie sprechen ja gut deutsch“ mit Antisemitismus zu tun? Gegenüber jemanden der Schwarz ist, aus dem Irak / Iran kommt oder einfach seit Urzeiten eingebürgert ist und perfektes Deutsch spricht sowie auch die deutsche Statsbürgerschaft hat, könnte die Aussage doch genau so gemacht werden.
Aber Vielleicht übersehene ich ja etwas. Klären Sie mich doch bitte auf.
Wenn mir jemand über eine Stunde zuhört, erfährt, daß ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, in deutsche Schulen, Universitäten gegangen bin etc.etc. – und er dann sagt, ich spräche ein gutes Deutsch, dann zeigt das, daß im Kopf dieses Mannes ein Stereotyp „des Juden“ existiert: der jiddelnde Jude, der des Deutschen nicht mächtig ist. Daß also das Stereotyp sich vor die eigentlichen Wahrnehmung legt. Und damit ist das Antisemitische in ihm stärker als seine Wahrnehmung. Das Antisemitische, das ihm kulturell beigebracht worden ist. Bewußt, unbewußt, es spielt keine Rolle. Es ist da und war in diesem Fall offensichtlich stärker als die ganz banale „Erkenntnis“, daß ich logischerweise und selbstverständlich perfektes Deutsch spreche. Was denn sonst?
Es ist schade zu sehen, dass, obwohl sich ihre geschilderte Erfahrung mit latentem Antisemitismus in der Gesellschaft vor 20 Jahren abgespielt hat, sich solche Muster immer mehr verfestigt haben. Schlimmer noch, dass der latente Antisemitismus nicht nur in Privaten Räumen passiert, sondern auch in der Politik und damit in der Öffentlichkeit offen kommuniziert wird. Es ist heutzutage erst Recht nicht die Zeit sich dumm zu stellen und Antisemitismus, der nicht direkt als solcher erkennbar ist, zu übersehen. Der Autor Michael Köhlmeier hat zum Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus eine treffende Rede in Wie gehalten, in der er auch anwesende FPÖ-Politiker damit konfrontierte. Beispiele wie seine Rede sind in Zeiten des aufkommenden Rechtsrucks in Europa um so wichtiger. Denn um nochmal Köhlmeiers Rede zu zitieren: „Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung“. Die Rede ist gerade einmal sechs Minuten lang und enthält so viel Richtiges. Wer sich für die gesamte Rede, sowie eine Rezension zu seinem Roman, das sich auch mit der Thematik von jüdischen Familien in der heutigen Zeit befasst, interessiert, dem hinterlasse ich den Link. Ich kann es nur empfehlen.