Thank God, it’s Friday

Die Sommerhitze hat sich gelegt, Rosh Hashana steht vor der Türe, es ist noch still in Tel Aviv: Thank God, it’s Friday!

Für einen Moment kann man durchatmen, ehe die Nachrichtenlage wieder über einen hereinbricht. Irgendwann einmal, so in 20 – 30 Jahren wird irgendjemand ein Drehbuch schreiben, möglicherweise mit dem Titel: „The time when democracy died“. Der Film wird sich mit den Jahren eines gewissen Benjamin Netanyahu, eines Donald Trump und irgendeines europäischen Spitzenpolitikers (Salvini? Orbán? Kurz?) beschäftigen. Und wird in Parallelmontage zeigen, wie sehenden Auges diese Politiker die letzen Überreste der Demokratie und des Anstands aufgaben, um ihre populistische Weltanschauung durchzudrücken. (Sie wundern sich vielleicht, daß ich oben Kurz mit aufgezählt habe? Wundern Sie sich nicht. Dieser Politiker war und ist vielleicht ab Sonntag wieder der Steigbügelhalter einer Partei voller Antisemiten, Rassisten und Völkisch-Gesinnten).

New York Times

Was sich derzeit vor allem in Washington und Jerusalem abspielt, ist nicht nur grauenvoll, es ist ein Absurditätenkabinett. Und manchmal reibt man sich die Augen und fragt sich: wie konnte es nur so weit kommen (wobei die Antwort auf der Hand liegt).

Jetzt aber, am Freitagmorgen, ist die Welt für ganz kurze Zeit noch in Ordnung, auch wenn ich mich schon zu dieser frühen Stunde frage, warum die New York Times die Identität des Whistleblower mehr oder weniger aufdeckt. Welchen Mehrwert hat das als Information für die Bevölkerung? Bedarf ein solcher Whistleblower – wie es das Gesetz verlangt – nicht des Schutzes? Und was bedeutet das für die Zukunft, wenn jemand Skandale aufdecken will, aber weiß, daß die Medien ihn publik machen könnten?

Hass auf Greta

Und wieso regt sich eigentlich die halbe Welt so wahnsinnig über Greta auf? Der Hass, der über dieses Mädchen hereinbricht, ihre psychischen Probleme, die sie hat – sie werden gerade im Netz durchgehechelt, als ob sie der Teufel persönlich sei. Ihre Aggressivität wird bemängelt und attackiert – mit noch mehr Aggressivität! Hat das Mädchen denn nicht recht? Und ist sie nun psychisch getrieben oder nicht? Das spielt doch am Ende keine Rolle – ihre Botschaft ist ja richtig. Und ich wünschte mir, all diese Wut auf das kleine Mädchen würde sich mal gegen die richten, die unsere Umwelt und unser wunderbares politisches System zerstören.

Rosh Hashana

Irgendwas ist im Koordinatensystem dieser Welt komplett daneben gegangen. Auch Habecks Peinlichkeit in der Pendlerpauschale (ja, sicher, keine große Stunde der Politik, klar) wird zu einem Skandal hochgejazzt, daß man sich fragt, ob die da draußen eigentlich noch alle Tassen im Schrank haben?

Werden Sie nicht auch manchmal einfach nur müde von alldem? Und möchten sich nur noch zurückziehen? Das wäre natürlich das Falscheste, was man machen kann. Aber so für zwei, drei Tage finde ich das gerade ganz wunderbar. Selten habe ich mich auf Rosh Hashana so gefreut wie diesmal. Wobei mir auch klar ist, daß wieder einmal ein großer Teil meiner nichtjüdischen Freunde mir kein gutes, neues  Jahr wünschen wird, weil sich’s immer noch nicht ins Bewußtsein eingeprägt hat, daß andere Menschen anders feiern… Auch so ein Stück Ignoranz. Aber… ich kenne das ja bereits mein ganzes Leben. Habe vor vielen, vielen Jahren mal ein längeres Stück dazu für die Süddeutsche Zeitung geschrieben. Und bekam dann von den Freunden erschrecktes Reagieren zu hören und Entschuldigungsbekundigungen. Und im nächsten Jahr hatten sie’s dann schon wieder vergessen… Aber das ist auch ok. nicht weiter schlimm, angesichts der Probleme, denen wir alle uns im Augenblick gegenübersehen, egal ob Juden, Muslime oder Christen.

In diesem Sinne also auch an all diejenigen, die keine Juden sind: Happy 5780! Thank God, it’s Friday!

9 Gedanken zu „Thank God, it’s Friday

  1. Lieber Herr Schneider,
    Ein glückliches 5780 für Sie gewünscht! Eines mit weniger Irrsinn und mehr Menschlichkeit, auch wenn es vermessen scheint, so etwas überhaupt zu denken. Von Ihnen wünsche ich mir weiter Woche für Woche Ihre profunden Kommenrare. Ich freue mich über jeden einzelnen!
    Alles Gute und masel tov!
    Ihr
    Wolfgang Becker-Freyseng

  2. Herr Schneider, ich verstehe ihre etwas(!) Resignierte Sicht der Dinge. Von Herzen Happy 5780 und vielen Dank für Ihre Beiträge, ich bin sehr froh über die klare ehrliche Sicht unserer Situation, es tut sehr gut

  3. Das Buch zur sterbenden Demokratie gibt es bereits: Steven Levitsky, Daniel Ziblatt / Wie Demokratien sterben: Und was wir dagegen tun koennen.

    Auch Yascha Mounk’s Buch „Der Zerfall der Demokratie“ passt gut dazu

    Wir leben im Spaetkapitalismus und die Prophezeiung von Rosa Luxemburg wird immer wahrscheinlicher real: „Sozialismus oder Barbarei“, oder in den Worten von Biermann: „So oder so, die Erde wird rot. Enweder leben-rot oder tot-rot“

  4. Auch wenn mir dieser Kommentar allemal lieber ist als das Zähnefletschen der Klimaignoranten: Ich finde es befremdlich, dass die weltweit bedeutende politische Aktivistin und Prophetin Greta (den Nachnamen lassen Sie gleich weg) als „kleines Mädchen“ bezeichnet wird, ob sich das nun auf’s Alter (immerhin 16 Jahre) oder gar ihre Körpergröße bezieht.

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