Nachtgedanken: Menschenrechte

Hier in Tel Aviv ist es bald Mitternacht. In Israel gehen die Uhren im Vergleich zu Deutschland eine Stunde vor. Ich lese online die Nachrichten und Meldungen zu den Vereinbarungen in Brüssel. Noch weiß man nicht, ob diese Angela Merkel die Kanzlerschaft retten oder nicht. Aber das ist gerade nicht der Punkt.

 

Politisch und militärisch impotent

Ich lese, wie SPIEGEL ONLINE titelt, über die »Orbanisierung Europas«. Wohl zurecht. Spätestens jetzt ist klar: Wenn’s hart auf hart kommt, dann pfeifen die Europäer auf die Menschenrechte. Nicht, daß mich das wirklich verwundert. Die Menschenrechte waren immer nur dann entscheidend, wenn man die »Macht« hatte, diese einzufordern. Dort, wo man sie nicht einfordern konnte, weil man politisch und militärisch impotent war und ist, hat man das mal in einem Nebensatz erwähnt, aber dann ist man ganz schnell zum Geschäft übergegangen. Ob das in China der Fall war und ist, ob im Iran oder sonstwo. Ja, gewiß, die EU ist gerade mächtig stolz, daß sie die Sanktionen gegen Russland um 6 Monate verlängert hat. Wegen der Krim, Sie wissen schon. Aber was bedeutet das wirklich? Als Heiko Maas Außenminister wurde und den Ton gegenüber Moskau verschärfte, da waren seine »Genossen« ganz eilig dabei, ihm das wieder auszureden. Zumindest versuchten sie es.

Ich will die Entscheidungen von Brüssel weder gut- noch schlecht heißen. Darum geht es mir gar nicht. Es zeigt halt einfach nur,  daß »Menschenrechte« Verhandlungsmasse sind. Daß Europa, das sich so sehr als Lehrmeister in Sachen Menschenrechte weltweit aufspielt, sich selbst um diese nur kümmert, wenn es paßt. Wenn es dem eigenen politischen Kalkül entspricht. Menschenrechte sind also nicht »bedingungslos«. Nicht einmal in Europa.

 

Realpolitik, die Menschenrechte nicht als Absolutes ansieht

Ich schreibe das ohne Häme. Eher traurig. Wer soll sich noch um die Menschenrechte kümmern? Selbst Macron, die »Lichtgestalt«, die inzwischen aber schon einigen Schatten abbekommen hat, hat sich, was die Flüchtlingsproblematik betrifft, da schon ein wenig umhergewunden und sich für merkwürdige neue Zentren und Lager ausgesprochen … Hauptsache, man hat nicht zuviel mit den Flüchtlingen am Hals…

Realpolitik? Vielleicht. Oder: gewiß. Aber eben auch: Eine Realpolitik, die Menschenrechte nicht als Absolutes ansieht, sondern je nach Bedarf agiert und reagiert. Nicht mehr. Nicht weniger. Vielleicht ist das »menschlich«, aber es ist gewiß nicht »ethisch« oder »moralisch«.

 

Sie werden sich alle auf den Weg machen

So banal ist es. Für die Menschen, die davon betroffen sind, ist das aber eine Katastrophe. Dessen sollte man sich bewußt sein, wenn man politisch so agiert. Und obendrein nicht glauben, daß man die Menschen auf Dauer aussperren kann. Sie werden kommen. Hunderte von Millionen. Flucht vor Kriegen, aus wirtschaftlichen Gründen, weil sie kein Wasser mehr haben, weil die Umweltkatastrophe sie zwingt, in den Norden zu fliehen. Es gibt Tausende Gründe. Sie werden sich alle auf dem Weg machen. Nach Europa. Vom Nahen Osten aus, von Afrika aus. Sie werden sich nicht aufhalten lassen. Nicht von Ankerzentren, nicht von nationalen Rückweisungen, nicht von europäischen Entscheidungen. Sie werden kommen. Zu Hunderttausenden, Millionen. Und dann? Wird es dann den Schießbefehl an den europäischen Außengrenzen geben? Wird das irgendwann Realität, was Frauke Petry schon mal gefordert hat?

 

Goya

Die Zukunft sieht düster aus, aber vielleicht liegt das einfach auch nur daran, daß gleich Mitternacht ist… Wie heißt es bei Goya:»El sueño de la razón produce monstruos« – Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Gute Nacht.

 

Richard C. Schneider, Tel Aviv

3 Gedanken zu „Nachtgedanken: Menschenrechte

  1. Die Verteidiger des Asylrechts haben dazu leider wesentlich beigetragen. Und darüber sollten wir jetzt allmählich reden, wenn es uns nicht darum geht, eine Fahne hoch zu halten, sondern effektive Hilfe zu leisten, wo sie am nötigsten ist.

    Fehler 1: Moral als Politikersatz. Die Verteidigung des Asylrechts stützte sich vornehmlich auf moralische Argumente und verweigerte sich der Diskussion von realen Problemen, die auch dann entstehen, wenn man sich moralisch unangreifbar fühlt.

    Fehler 2: Überforderung der Bevölkerung. Die Verteidiger des Asylrechts haben die Grenzen des Machbaren und des Leistbaren, des politisch Tragbaren und für die Menschen Hinnehmbaren ignoriert, verneint oder verlacht, in jedem Fall aber lange völlig falsch eingeschätzt.

    Fehler 3: Überforderung des Rechts. Die Verteidiger des Asylrechts haben sich zu lange darauf verlassen, dass Rechtsetzung und Rechtsprechung unveränderlich auf ihrer Seite stehen. Ein doppelter Irrtum, denn vielfach hatten sie das Recht gar nicht auf ihrer Seite, wie bei der Behauptung, man könne und dürfe gar niemand an der Grenze abweisen, noch ist das Recht in Demokratien überpositiver Natur: Es kann nur so lange uneingeschränkt wirken, wie die Menschen es zumindest im Grundsatz mittragen.

    Fehler 4: Überforderung der EU. Angefangen mit der Zwangsverteilung von Flüchtlingen, die nie funktioniert hat, bis zur Erwartung, dass Italien für deutsche Rettungsschiffe seine Häfen offen halten müsse, ob die Italiener das nun wollen oder nicht, haben die Verteidiger des Asylrechts in Deutschland nicht erkannt, wo die Grenzen der Akzeptanz bei unseren Nachbarländern sind.

    Fehler 5: Vermischung von Flucht und Einwanderung. In dem kompromisslosen Verlangen, das Asylrecht uneingeschränkt zu erhalten, wurde es zum Einfallstor für illegale Einwanderung. Diese ist menschlich verständlich, aber sachlich völlig anders zu beurteilen. Weil die Verteidiger des Asylrechts sich weigerten, effektive Maßnahmen zur Schließung des Tors für unerwünschte Migration zu ergreifen, fällt nun die Tür für alle zu, auch für die Menschen, die auf der Flucht sind und einen wohl begründeten Asylanspruch haben. (Boris Palmer, Grüner OB von Tübingen)

    1. Das ist doch offensichtlich. Die Flüchtlinge lassen sich doch jetzt auch schon nicht aufhalten. Wenn die Not immer schlimmer wird, dann macht man alles, um ein besseres Leben zu finden. Sogar auf einem kaputten Schlauchboot über’s Mittelmeer den Weg ins bessere Leben suchen

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